Jessica Richter: Überlebensstrategien auf dem Land

Nicht Autobiografien und Tagebucheinträge von großen Männern, sondern solche von gewöhnlichen Haushaltsgehilfinnen reizen Jessica Richter.
Nicht Autobiografien und Tagebucheinträge von großen Männern, sondern solche von gewöhnlichen Haushaltsgehilfinnen reizen Jessica Richter.(c) Lukas Aigelsreither
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Häuslicher Dienst, Landflucht und Arbeitsrechte: Jessica Richter forscht zur Geschichte des ländlichen Raums und zur Arbeitssituation der dortigen Unterschicht in Krisenzeiten.

„Ich finde Bereiche, die in der Forschung vernachlässigt werden, total interessant“, sagt die Historikerin Jessica Richter. In der Geschichtswissenschaft, die gesellschaftliche Wandlungsprozesse zumeist anhand von Städten untersucht, gehöre dazu das Land. „Das hat auch mit der Hierarchisierung von bestimmten Räumen zu tun. Das Land gilt gemeinhin als traditionell“, so die 39-Jährige. Sie will die vermeintlichen Gegensätze von städtischem und ländlichem Raum entlang der gesellschaftlichen Grenzziehungen von Modernität und Tradition aufbrechen. „Es ist historisch bedingt, welche Orte, Arbeit oder Art der Lebensführung gegenüber anderen als modern gelten.“

Seit zwei Jahren forscht Richter am Institut für Geschichte des ländlichen Raums in St. Pölten. Der Lebensmittelpunkt der gebürtigen Deutschen ist hingegen städtisch geprägt: „Ich finde an mir selbst spannend, für wie wenig interessant ich ländliche Geschichte früher gehalten habe. Aber je genauer man hinschaut, desto interessanter wird es.“ Aufgewachsen ist sie im Speckgürtel von Hannover, es folgten Studien in Cardiff, Großbritannien, und Hannover. Seit zehn Jahren lebt Richter in Wien. Hier verfasste sie ihre Dissertation und war jahrelang Mitarbeiterin bei dem Forschungsprojekt „Production of Work“ am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Uni Wien. Darin drehte sich alles um Wohlfahrt, Arbeitsmarkt und die umstrittenen Grenzen von Lohnarbeit zwischen 1880 und 1938.

Was Akten und Autobiografien verraten

In diesem Spannungsfeld ist auch die Dissertation von Richter angesiedelt, in der sie Auseinandersetzungen um den häuslichen Dienst beleuchtet. Erst kürzlich wurde sie für diese Arbeit mit dem Doc-Award der Stadt Wien und der Universität Wien ausgezeichnet. „Mit der Entwicklung des Sozialstaates hat sich Arbeit stark verändert“, erklärt Richter den Ausgangspunkt ihrer Forschung. Obwohl Haushaltsgehilfinnen teilweise schwere körperliche Tätigkeiten wie Kohlenschleppen oder Waschen verrichten mussten, hatten sie weniger Rechte als gewerbliche Arbeitskräfte. So galt für sie etwa das Achtstundentag-Gesetz nicht und sie wurden erst 1921 in die Krankenversicherung miteinbezogen. „Die Dienstverhältnisse waren häufig konfliktreich und die Lebens- und Arbeitsverhältnisse entsprechend schlecht.“ Zudem schlugen Haushaltsgehilfinnen, die in der Stadt eine Stelle suchten, allgemeine Vorurteile gegenüber der Landbevölkerung entgegen: „Ihre Dienstgeber in großen Bürgerhaushalten kritisierten ihren Dialekt. Sie hatten Angst vor dem angeblichen Schmutz und der Ungebildetheit der Mädchen vom Land.“

Aktuell untersucht Richter Überlebensstrategien von Landarbeitern, Dienstboten und Haushaltsgehilfinnen in Niederösterreich und Wien im Kontext von staatlichen Maßnahmen zur Regelung von Migration. Das Thema Landflucht sei stark ideologisch und politisch geprägt. „Es stimmt, dass ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Städte aufgrund neuer Arbeitsplätze wuchsen. Aber Migration ist oft keine Einbahnstraße“, betont sie. „Es gibt vielfältige Bewegungen in beide Richtungen.“

Die Unterschicht musste mobil sein

Aufbauend auf den Erkenntnissen ihrer Doktorarbeit beschäftigt sich Richter damit, wie sich Arbeitskräfte der ländlichen Unterschicht in Krisenzeiten durchgeschlagen haben. Insbesondere Haushaltsgehilfinnen, aber auch landwirtschaftliche Hilfsarbeiter, Näherinnen, Dienstboten und Kleinhandwerker gehören zu Richters „Klientel“. Als Quellen nutzt sie Behördenakte, Gerichtsentscheide, Zeitungsartikel und autobiografisches Material. „Gerade Frauen wechselten ganz oft zwischen Stadt und Land, ihnen stand der Arbeitsmarkt viel weniger offen als Männern, weil Buben noch eher Zugang zu Lehrausbildungen hatten“, so Richter.

Für ihre Forschungen muss Richter viele Stunden allein im Archiv verbringen, wo sie mit Freude in die Geschichten der Menschen eintauche. In ihrer Freizeit umgibt sich die Forscherin umso lieber mit Menschen aus Fleisch und Blut. „Ich verbringe jede freie Minute mit meinen Freunden“, lacht sie. „Die sind gleichzeitig so etwas wie mein Hobby.“

Zur Person

Jessica Richter (39) absolvierte ihr Geschichtestudium im britischen Cardiff und in Hannover. Ihr Doktorat, für das sie das Johanna-Dohnal-Stipendium erhielt, machte sie am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Uni Wien. Richter ist Gründungsmitglied des Vereins Fernetzt – Junges Forschungsnetzwerk Frauen- und Geschlechtergeschichte und seit 2016 am Institut für Geschichte des ländlichen Raums in St. Pölten tätig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2018)

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