Jüdische Geschichte des Mostviertels

Ein pensionierter Religionslehrer hat in zehnjähriger Arbeit die jüdische Geschichte des Mostviertels minuziös rekonstruiert.

Zugegeben: Für den Strandkorb eignet sich dieses Werk nicht. Denn es handelt sich um drei großformatige Bände mit zusammen 1197 Seiten. „Tragbar“ ist dieser Papierberg kaum. Auch wenn dieses Wort im Titel der Trilogie vorkommt – der da lautet: „Unsere jüdischen Landsleute und ihr tragbares Vaterland“. Dennoch ist dieser Titel äußerst gut gewählt – in mehrfacher Hinsicht: Zum einen war das Leben der jüdischen Gemeinde im Mostviertel – um die es geht – trotz aller Anfeindungen meist „erträglich“, weil die jüdischen Mitbürger gut integriert waren und von vielen Zeitgenossen unterstützt wurden. Zum anderen waren das Mostviertel und seine Eigenarten für viele auch nach der Flucht und Vertreibung ein „tragbares Vaterland“.

Die gewichtige und minuziöse Aufarbeitung der regionalen jüdischen Geschichte von 1880 bis zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ist das Ergebnis der zehnjährigen Arbeit von Johannes Kammerstätter, einem pensionierten Religions- und Musiklehrer am Francisco-Josephinum Wieselburg, der renommiertesten Landwirtschaftsschule Österreichs. Im ersten Band „Heimat trotz alledem“ erzählt er die Geschichte des Mostviertels aus Sicht der jüdischen Landsleute: über den erstarkenden Antisemitismus, wie sich dieser auswirkte und wie die Betroffenen reagierten – bis hin zum Pogrom im November 1938. Überregionale Bedeutung hatte der 11.März 1893, an dem der „Waidhofner Verband“ von 20 deutschnationalen Burschenschaften beschloss, alle jüdischen Studenten auszuschließen und für ehrlos zu erklären. Der Beschluss sollte traurigen Vorbildcharakter für andere Organisationen im ganzen deutschen Sprachraum bekommen. Im zweiten Band „Heimat zum Mitnehmen“ erzählt Kammerstätter die Geschichte von 74 Familien – viele Details hat er von Angehörigen erfahren, die über die ganze Welt verstreut leben und mit denen er Kontakt aufgenommen hat. Der dritte Band „Tragbares Vaterland“ versammelt schließlich unzählige Briefe, Essays, Mundartgedichte, Tagebücher oder Fluchtberichte.

So imposant die Trilogie schon für sich gesehen ist: Sie ist zudem eingebettet in eine Reihe von Aktivitäten: von einem Schülerprojekt, in dem die Plattform www.tragbaresvaterland.at programmiert wurde, über eine Wanderausstellung bis hin zur Renovierung der Zeremonienhalle des jüdischen Friedhofs Ybbs/Göttsbach. Aus der Geschichte, die so grauenhaft geendet hat, zieht der Autor dennoch ein halbwegs tröstliches Fazit: „Was mich betrifft, teile ich die biblische Überzeugung, dass es selbst in moralisch verrotteten Zeiten und an hoffnungslosen Orten wenigstens einige Gerechte gibt.“


Johannes Kammerstätter: „Unsere jüdischen Landsleute und ihr tragbares Vaterland.“
1197Seiten, 59,90 Euro (papercomm Verlag)

martin.kugler@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.