Wort der Woche: Psychische Erkrankungen

Ein Drittel aller psychischen Erkrankungen wird in Österreich niemals diagnostiziert und daher auch nicht therapiert.

In einer Versuchsreihe hat Manfred Zielke (Uni Mannheim) 300 psychisch Erkrankte – die deswegen arbeitsunfähig waren – sechs Wochen lang behandelt und dann drei Jahre beobachtet. Eine gleich große Vergleichsgruppe wurde nicht behandelt und nur beobachtet. In der behandelten Gruppe sanken die Krankenhausaufenthalte um 50 Prozent, die Krankenstände um 15 Prozent, die Kassen ersparten sich 20 Prozent der Kosten.

Solche Studien – und derer gibt es viele – belegen ganz klar, dass eine fachgerechte Diagnose und Therapie von psychischen und psychiatrischen Störungen nicht nur Patientenleid vermindern, sondern auch die gesellschaftlichen Kosten senken. In Österreich werden aktuell rund 900.000 Menschen psychisch oder psychiatrisch betreut (davon 840.000 mit Psychopharmaka) – es gibt aber eine große Dunkelziffer: Ein Drittel der Fälle wird gar nicht erst diagnostiziert. Darüber wurde im Herbst 2011 in Salzburg bei einer Tagung debattiert, die Beiträge wurden nun unter dem Titel „Die Folgen der Nichtdiagnose psychischer Erkrankungen“ (Hrsg. M.Stelzig, S.Rathner, R.Klaushofer, 236S., 59,90Euro, Jan Sramek Verlag) veröffentlicht.

Auf Basis solcher Zahlen ist die Forderung nach einer Psychotherapie auf Krankenschein und nach einer besseren psychiatrischen Ausbildung von Turnusärzten – wie sie bei der Präsentation des Buches in der Vorwoche erneuert wurden – nicht verwunderlich. In der Praxis gibt es den Analysen zufolge auch viele Probleme: Es dauere im Schnitt fünf Jahre, bis ein Patient richtig behandelt werde; man lasse Patienten oft mit dem Problem allein; vielen Menschen sei eine Diagnose – und erst recht eine Behandlung – peinlich; und eine Nichtdiagnose von psychischen Erkrankungen werde kaum als Behandlungsfehler eingestuft.

Könnte ein gezieltes „Screening“ der Bevölkerung nach psychischen Problemen Abhilfe schaffen? Die Studienergebnisse sind zwiespältig – u.a. wegen eines hohen Aufwands durch falsch-positiv gescreente Patienten. Clemens Sedmak, Theologe und Ethiker in Salzburg und am King's College London, merkt dazu in seinem Beitrag an: „Maximaldefinitionen von ,Gesundheit‘ haben bei aller politischen Relevanz auch unangenehme Implikationen in Bezug auf Erwartungshaltungen bzw. Frustrationspotenzial.“ So könne ein Patient in seiner Eigenwahrnehmung und -beurteilung irritiert werden, eine psychiatrische Diagnose könne an einem Menschen kleben bleiben und längerfristig verunsichern und paralysieren. Sedmak plädiert daher für eine sorgfältige Güterabwägung – und dafür, „über das Instrument der Diagnose nicht den Blick auf den Menschen und das Mysterium des Menschseins zu verlieren“.

martin.kugler@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2013)

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