Tschechoslowakei

Die Tschechoslowakei spionierte bis 1989 mit einem riesigen Apparat in Österreich: Es ging nicht nur um Politik, sondern auch um Atomprogramme und um technisches Know-how.

Die Grenze von der einst kommunistischen Tschechoslowakei zu Österreich und Bayern war zu Zeiten des Kalten Krieges „blutiger“ als die innerdeutsche Grenze: Nachdem der Eiserne Vorhang heruntergelassen worden war, starben laut Historikern 1038 Menschen im Böhmerwald, an der Thaya und an der March – zwischen BRD und DDR kamen 872 Menschen ums Leben.

Manche der Einzelschicksale hat, wie berichtet, ein Forscherteam um Stefan Karner vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung (BIK) im aktuellen Buch „Halt!“ (Ecowin-Verlag) aufgearbeitet. Die fürchterlichen Ereignisse sind allerdings nur die Spitze eines Eisbergs: des Gegensatzes zweier unversöhnlicher Machtblöcke. Im Detail liegt vieles freilich noch im Dunkeln. Das will das BIK gemeinsam mit tschechischen und slowakischen Forschern ändern – und zwar höchst systematisch auf Basis bisher unbekannter oder unter Verschluss gehaltener Akten: Nach den Grenzopfern ist der nächste Puzzlestein die Spionagetätigkeit. Bei einer Tagung vor Weihnachten im südböhmischen Städtchen Telč wurden neue Fakten über die sogenannten Residentur der Tschechoslowakei in Wien zusammengetragen – von dort aus wurde ein großen Netzwerk von Spionen und Zuträgern gesteuert. Die Agenten waren eine „neue Elite“: Sie stammten ursprünglich aus der Arbeiterschaft, wurden akademisch ausgebildet und verdienten deutlich mehr als daheim; ein Einsatz in Wien war für viele auch ein Karrieresprungbrett, berichtet Philipp Lesiak, Leiter der BIK-Außenstelle Raabs/Thaya. Bei der Anwerbung von Informanten in Österreich wurden oft alte Bande aus der Habsburgermonarchie genutzt – neben Sprachkenntnissen wurden auch in der Tschechoslowakei lebende Verwandte unter Druck gesetzt.

Bei der Konferenz wurde auch über „Erfolge“ der Spionage berichtet. So konnte in den 1970er-Jahren die Atomenergiebehörde (IAEA) infiltriert werden – dieses Wissen brachte dann das tschechoslowakische Atomprogramm weiter. Und auch dezidierte Wirtschaftsspionage wurde betrieben: 30Jahre lang wurde Swarovski in Wattens systematisch ausspioniert, z.B. im Rahmen der Operation Solux (1957–1963) durch den Informanten „Fux“; das Know-how ging an den tschechischen Kristallglashersteller Preciosa Liberec – ein Fall, der in Tschechien noch strafrechtliche Relevanz hat.

Man sieht, in welch umfassendem Sinne Karner mit dem Schlusssatz in seinem Buch recht hat: „Nach dem Abbau des realen Eisernen Vorhangs muss auch der Eiserne Vorhang des Erinnerns durchtrennt, dem Vergessen entrissen werden.“

martin.kugler@diepresse.com diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2014)

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