Wort der Woche

Die großen Raubtiere haben viel stärkere Auswirkungen auf ökologische Nahrungsketten als bisher gedacht.

Obwohl er streng geschützt ist, wurden allein in den vergangenen Wochen zumindest zehn Wölfe in Graubünden, in der Lausitz und in Italien abgeschossen. Der Wolf gilt vielen Menschen nach wie vor als Feind, der verfolgt werden muss. Daran ändert – zumindest kurzfristig – auch nichts, dass der Wissenschaft immer klarer wird, welch wichtige Rolle der Wolf in den ökologischen Netzwerken hat. Das wurde etwa im Yellowstone National Park genau erforscht: Dort wurden Wölfe, so wie in den ganzen Rocky Mountains, in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts stark dezimiert – bis sie 1995 wieder eingebürgert wurden. Es zeigte sich, dass die Hirschpopulation ohne Wölfe sechsmal (!) höher war. Das hat viele Folgen: etwa, dass das Wild junge Bäume abfrisst, dadurch die Naturverjüngung der Wälder verhindert – und damit u.a. die Schutzfunktion, die Wasserspeicherfähigkeit, die Aufnahmefähigkeit für CO2 und die Widerstandskraft gegen invasive gebietsfremde Arten (Neobiota) beeinträchtigt. Die Konsequenzen reichen aber noch viel weiter: Durch das veränderte Baumartenspektrum (Tanne ist besonders empfindlich für Wildverbiss) wandeln sich die Lebensräume z.B. für Biber oder Singvögel. Wölfe reißen aber auch kleinere Fleischfresser (wodurch sich z.B. Mäusepopulationen verändern) sowie Pflanzenfresser (was Konsequenzen für Pflanzengemeinschaften hat). Und: In einem Lebensraum mit Wölfen liegen weniger kranke, verendete Tiere herum, das hat Folgen für Aasfresser.

Ähnlich umfassende Auswirkungen auf Ökosysteme haben auch andere Großraubtiere wie Pumas, Löwen, Bären, Dingos, Luchse oder Seeotter: Das ist das zentrale Ergebnis einer in Science (10.1.) veröffentlichten Studie von Forschern aus Oregon. In Bezug auf Pumas z.B. wurde dokumentiert, dass deren Verschwinden den Lebensraum für Schmetterlinge verschlechtert; Seeotter halten Seeigel in Schach, was positive Auswirkungen auf Algen und die Erosionsbeständigkeit von Ufern hat; Dingos sorgen dafür, dass es weniger Kängurus gibt und in der Folge artenreicherer Graslandschaften; und ohne Löwen nehmen die Bestände von Pavianen so stark zu, dass sie sich sogar an Feldfrüchten vergreifen.

Eine wichtige Erkenntnis: Menschliche Bejagung kann Raubtiere kaum ersetzen. Denn erstens jagen die Fleischfresser zu anderen Zeiten und reißen andere Individuen (hinsichtlich Alter, Gesundheitszustand, Geschlecht, sozialen Status im Rudel etc.). Und zweitens wirken meist mehrere Raubtierarten zusammen (die jeweils ein anderes Beutespektrum haben). Das bestätigt eine alte Weisheit: Wenn der Mensch in die Umwelt eingreift, dann hat das stets vielfältige Folgen – die der Mensch dann kaum in den Griff bekommen kann.

martin.kugler@diepresse.com 

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.01.2014)

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