Differenzialgleichungen

Ohne Differenzialgleichungen ist moderne Wissenschaft undenkbar – und das, obwohl diese Methode noch immer nicht "fertig" entwickelt ist.

Generationen von Schülern hatten und haben größte Schwierigkeiten mit Differenzialgleichungen – aber ohne diese Art von Mathematik würde unsere Welt völlig anders aussehen: Ohne sie gäbe es etwa keine Computer, keine Raumfahrt, keine Autobahnbrücken oder keine genauen Wetterprognosen.

In Differenzialgleichungen kommen zugleich eine physikalische Größe (z.B. die Geschwindigkeit) und deren Veränderung (die Beschleunigung) vor. Mathematisch formuliert: Eine Variable ist eine Funktion der Ableitung dieser Variablen. Ein derartiger Zusammenhang tritt in vielen Gebieten auf, von Schwingungen und Planetenbahnen über Strömungen und Reaktionskinetik bis hin zu Quantenphänomenen und dem Wirtschaftswachstum.

Schon Galileo Galilei bemerkte das bei seinem Fallgesetz. Und auch Johannes Kepler schlug sich bei der Bestimmung des Volumens von Weinfässern mit einem ähnlich gearteten Problem herum. Beiden fehlte noch ein Werkzeug zur Lösung. Die Differenzialrechnung wurde fast zeitgleich und unabhängig voneinander in den Jahren um 1670 von Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz geschaffen – die beiden kämpften zeit ihres Lebens im erbittert geführten Prioritätsstreit um das Vorrecht des „Ersterfinders“. Die nächsten Generationen von Mathematikern formulierten die Theorie von Differenzialgleichungen dann voll aus – ohne sie geht heute in vielen Wissenschaften nichts mehr.

Es gibt aber ein Problem: Die Gleichungen sind nur in den seltensten Fällen exakt lösbar. Man muss sich meist mit näherungsweisen, sogenannten numerischen Lösungen begnügen. Trotz jahrhundertelanger Forschung ist hier die Entwicklung bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Gerade seit es leistungsfähige Computer gibt, explodiert dieser Zweig der Mathematik geradezu – und kaum jemand in Österreich weiß, dass Wiener Mathematiker dabei an vorderster Front mitforschen: Mehr als ein Dutzend Professoren arbeiten hier in diesem Gebiet!

Um diese Spitzenstellung weiter auszubauen, eröffnen Mathematiker der Uni und der TU Wien kommende Woche das „Vienna Center for Partial Differential Equations“ (PDE). Dieses Zentrum soll, zusammen mit einem im Vorjahr gestarteten FWF-Doktoratskolleg, bessere Lösungsmethoden finden. Naturwissenschaftler warten darauf dringend. Denn wie es schon Leibniz formulierte: Es geht um nichts weniger als darum, „physiko-mathematische Probleme zu lösen, zu denen die Tür bisher verschlossen schien“.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

martin.kugler@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2014)

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