Demografischer Wandel

Der demografische Wandel sollte nicht als Bedrohung, sondern als Chance begriffen werden, meinen acht europäische Wissenschaftsakademien.

Europa erlebt derzeit eine Situation, die es in der Menschheitsgeschichte niemals zuvor gegeben hat: Obwohl Frieden herrscht und die Menschen in Wohlstand und guter Gesundheit leben, schrumpft die Bevölkerung. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Europäer immer weniger Nachkommen bekommen. Gleichzeitig gibt es eine zweite, höchst positive Entwicklung: Die Menschen werden immer älter, jedes Kalenderjahr steigt unsere Lebenserwartung um drei Monate an – und das in vielen Fällen bei bester Gesundheit. Die Konsequenz dieser beiden Trends ist bekannt: Das Durchschnittsalter der Bevölkerung erhöht sich, einer steigenden Zahl von Senioren steht eine schrumpfende Schar an jungen Menschen gegenüber. Dass die Sozialsysteme noch nicht gekippt sind, ist vor allem der Zuwanderung zu verdanken.

Die Politik ist angesichts dieser Entwicklung starr vor Schock – zu groß ist die Angst, bestimmte Wählerschichten durch einschneidende Reformen zu verprellen. Das müsste aber nicht so sein, sind Demografen überzeugt: Acht europäische Wissenschaftsakademien – unter ihnen die ÖAW – haben diese Woche das Papier „Mastering Demographic Change in Europe“ veröffentlicht (www.leopoldina.org). Es kann als Gegenkonzept zum Fürchten gelesen werden: Der demografische Wandel ist demnach keine Bedrohung, sondern eine Chance, um die Lebenszufriedenheit zu steigern und gleichzeitig den Ressourcenverbrauch zu senken. So könnte der Vorteil der niedrigen Geburtenraten genützt werden, um die Investitionen in die Bildung jedes einzelnen Bürgers zu erhöhen; höhere Bildung führt auf individueller Ebene zu höherem Einkommen und besserer Gesundheit – und auf volkswirtschaftlicher Ebene zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand.

Weiters könnte die Verteilung von (Aus-)Bildung, Arbeit sowie Freizeit- und Familienleben im Lebenslauf flexibler gestaltet werden, um den Bedürfnissen der Menschen und der Arbeitswelt besser gerecht zu werden. Und je vielfältiger eine Gesellschaft wird – durch Integration von Zuwanderern sowie mehr Frauen und älteren Menschen im Arbeitsleben –, desto höher ist das produktive und innovative Potenzial einer Gesellschaft.

Beim Schmökern in dem Papier kommt einem eine alte Weisheit in den Sinn: Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Und man wünscht sich, dass sich auch die Mächtigen dieser Welt ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen – und endlich die nötigen Reformen angehen.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com
diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2014)

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