Begriffe der Wissenschaft

Für viele Menschen macht erst Musik das Leben lebenswert. Die Wissenschaft kann dieses Faktum allerdings nur unzureichend erfassen.

Kaum ging der Sommer zu Ende, entbrannte in einigen Medien eine skurrile Debatte: Heuer habe es, wurde festgestellt, keinen Sommerhit gegeben. Kein „Lambada“, kein „Macarena“, keinen „Mambo No. 5“ etc. Vielleicht liegt es daran, wurde vermutet, dass durch den Aufstieg des Internets als egalitäre Verteilungsplattform die Marktmacht der großen Labels gebrochen wurde. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass kein Mensch mehr die seichten Happy-Pepi-Lieder ertragen kann (oder dass Helene Fischer diesen Bedarf ausreichend befriedigt).

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass praktisch jeder Musikstil dazu tendiert, simpler und formelhafter zu werden, sobald er zum „Mainstream“ wird und die Verkaufszahlen steigen. Das haben kürzlich Komplexitätsforscher um Stefan Thurner (Med-Uni Wien) gezeigt – zumindest in Hinblick auf die Instrumentierung, deren Komplexität aber häufig Hand in Hand mit musikalischen Parametern geht. Die Megahits gefallen freilich auch nicht jedem gleichermaßen: Eine Gruppe von Forschern der Universitäten Cambridge und Stanford hat nun eine allgemeine Regel gefunden, welche Menschen welche Art von Musik bevorzugen – diese Regel gilt interessanterweise für Pop und Jazz genauso wie für Klassik oder Techno: Empathische Menschen mögen demnach eher sanfte, sinnliche Musik mit traurigen Themen, während rational-systematische Menschen zu dichter, spannungsgeladener und anregender Musik tendieren.

Musik hat jedenfalls Macht über uns Menschen: Wissenschaftler konnten etwa beweisen, dass bei vielen Patienten die jeweilige Lieblingsmusik schmerzlindernd wirkt, dass die Menschen risikobereiter sind, wenn sie ihre bevorzugte Musik hören, dass viele Menschen bei trauriger Musik Trost finden oder dass nur eine Minderheit der drei bis vier Monate alten Säuglinge Arme und Beinchen im Takt zu Musik bewegen können.

Solche Studien sind allesamt interessant, sie liefern Puzzlesteinchen für die Erklärung, wie Musik auf uns Menschen wirkt und unser Verhalten beeinflusst. Eines fällt aber auf: In keiner einzigen der erwähnten Studien (und auch in dem Dutzend weiterer, in denen ich geschmökert, die ich aber hier nicht angeführt habe) findet sich ein alles entscheidendes Wörtchen: Ästhetik. Zurückkommend auf die eingangs erwähnten Sommerhits mag das Wort „Ästhetik“ vielleicht etwas hoch gegriffen sein. Aber ohne auf die innere Schönheit von Musik auch nur ansatzweise einzugehen, muss jede Forschung zu diesem Thema Stückwerk bleiben.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2015)

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