Raumzeit

In der Allgemeinen Relativitätstheorie spielt die Raumzeit eine aktive Rolle: Ihre Krümmung beeinflusst die Materie - und umgekehrt.

Von Stund' an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbstständigkeit bewahren.“ So schön beschrieb der russische Physiker Hermann Minkowski 1908 die Raumzeit. Er selbst definierte den vierdimensionalen Raum, in dem sich die Spezielle Relativitätstheorie Albert Einsteins (aufgestellt 1905) formulieren lässt: Man nennt ihn Minkowski-Raum. In ihm gibt es vier voneinander unabhängige Richtungen, drei sind räumlich, eine entspricht der Zeit. Allerdings ist die Zeitrichtung nicht – wie in Newtons Theorie – eindeutig. Das äußert sich darin, dass in relativ zueinander bewegten Systemen Zeit unterschiedlich vergeht.

Die „Union“ von Raum und Zeit wurde oft als kontraintuitiv bezeichnet, das ist sie nicht unbedingt. „In der Sprache gibt es keine zwei Bereiche, die enger miteinander verbunden wären als Raum und Zeit“, schreibt der Linguist Guy Deutscher: Wir sagen „von Montag bis Freitag“ wie „von Berlin bis Paris“ und „durch das Jahr“ wie „durch den Dschungel“. Den offensichtlichen Unterschied in der Erfahrung – dass die Zeit im Gegensatz zum Raum vergeht, verstreicht, dass sie sich zumindest im Makroskopischen nicht umkehren lässt – erklärt auch die Relativitätstheorie nicht; für die Einsicht, dass der Zeitpfeil in Richtung wachsender Entropie zeigt, brauchen wir die Thermodynamik.

Viel eher kontraintuitiv ist die Raumzeit, in der die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) daheim ist. Im Gegensatz zum Minkowski-Raum ist sie nicht flach, sondern kann gekrümmt sein. Die Krümmung eines vier- oder auch nur dreidimensionalen Raums kann man sich nicht anschaulich vorstellen, die eines zweidimensionalen Raums, also einer Fläche, schon. Rollt man ein Blatt Papier zu einem Zylinder zusammen, dann ist das nur eine äußere Krümmung: Auf das Blatt gezeichnete Dreiecke haben noch immer eine Winkelsumme von 180 Grad, Parallele schneiden sich noch immer nicht. Anders bei einer Kugeloberfläche: Sie hat auch eine innere Krümmung, man kann sie nicht auf einer Ebene ausrollen. Diese Art von Krümmung ist essenziell in der ART, sie wird durch Masse bzw. Energie bewirkt – und wirkt wiederum auf diese.

Hat die ART auch beeinflusst, was Philosophen über Raum und Zeit sagen können? Der Physiker und Philosoph Claus Beisbart plädierte bei einem Vortrag in der Akademie der Wissenschaften für ein klares Ja: Die ART stärke den (von Newton vertretenen) Substanzialismus, nach dem Raum und Zeit auch leer, ohne Objekte, existieren könnten – im Gegensatz zum (von Leibniz verfochtenen) Relationalismus, nach dem sie nur Beziehungen zwischen Objekten seien. Die Lösung Kants, dass Raum und Zeit aus unseren Köpfen in die Welt projiziert würden, sei jedenfalls nach der ART obsolet.

thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2015)

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