Kinderwunsch und Geburtenrate

Zwischen Kinderwunsch und der Zahl der tatsächlich geborenen Kinder klafft eine große Lücke. Die Gründe dafür sind nicht so einfach zu benennen.

Wie es um den Kinderwunsch Marias bestellt war, wissen wir nicht. Unklar ist ebenso, wie viele Kinder sie hatte. Die Berichte in der Bibel, in denen von Brüdern und Schwestern Jesu die Rede ist, wurden und werden unterschiedlich interpretiert. Sicher ist jedenfalls, dass die Menschen vor 2000 Jahren mehr Nachkommen hatten als heute: In Europa liegt der Durchschnitt pro Frau aktuell bei rund 1,6 Kindern – in Österreich etwas darunter. Die Gesellschaft altert daher, zur Stabilisierung brauchen wir Zuwanderung.

Eigentlich würden viele Europäer ja gern mehr Kinder bekommen: Das Ideal ist unverändert die Zwei-Kind-Familie. Kinderwunsch und Geburtenrate klaffen aber auseinander – u. a., weil das Kinderkriegen in spätere Lebensphasen verschoben wird. Bis es oft zu spät ist.

Demografen suchen intensiv nach Erklärungen für die Diskrepanz zwischen Kinderwunsch und Kinderzahl – wobei meist die Frauen im Zentrum der Forschung stehen. Der wichtigste Faktor scheint eine funktionierende Partnerschaft zu sein. Diese kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein: In Nord- und Westeuropa sind nicht-eheliche Kinder bereits in der Überzahl; in Osteuropa hingegen steigt zur Zeit der Anteil ehelicher Geburten. Wichtig ist auch die Erwerbstätigkeit: Arbeitslose oder geringfügig beschäftigte Frauen setzen ihren Plan, Kinder zu bekommen, viel seltener um. Eine Rolle spielt weiters der Bildungsstand: Je besser Frauen ausgebildet sind, umso größer ist deren Kinderwunsch; gleichzeitig ist aber auch die Differenz zwischen Kinderwunsch und Zahl der geborenen Kinder größer.

Überraschenderweise steigt die Wahrscheinlichkeit, den Kinderwunsch zu realisieren, mit dem Bildungsstand der Mütter der Mütter. Familienplanung wird also offenbar vererbt – so wie auch traditionelle Familienbilder lange nachwirken: In Ostdeutschland, wo in kommunistischen Zeiten die Rolle der reinen Hausfrau verpönt war, ist bis heute der Anteil an vollzeitberufstätigen Müttern höher als in Westdeutschland.

Unser Fortpflanzungsverhalten gründet also auf einem Mix sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und historischer Einflussfaktoren. Aber nicht nur: Melinda Mills (Uni Oxford) hat kürzlich genetische Faktoren gefunden (Nature Genetics, 31. 10.): zwölf Gene, die zusammen einen Teil der Variabilität erklären. Und das nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern – die bisher nicht so sehr im Fokus der Forschung standen.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.