Wort der Woche

Europa als Hegemonialmacht

Wie wurde Europa zur Hegemonialmacht der Welt? Dafür wurden schon viele mögliche Erklärungen versucht, ein US-Historiker steuert nun eine neue bei.

Viele Menschen, mich eingeschlossen, sind ungemein fasziniert von Geschichte. Besonders fesselnd ist der Gedanke, dass die Geschichte auch ganz anders hätte verlaufen können. Diesen Gedanken greift der US-Historiker Philip T. Hoffman in seinem Buch „Wie Europa die Welt eroberte“ (336 S., 25,90 Euro, Theiss Verlag) auf: „Hätten sich die Nachkommen Karls des Großen nicht zerstritten und bekämpft, und wäre es den Mongolen nicht gelungen, China zu unterjochen, so würden wir jetzt wahrscheinlich eine ganz andere Frage stellen, nämlich ,Wie hat China die Welt erobert?‘“

Die Frage, warum und wie Europa in der Neuzeit zur Hegemonialmacht der Welt wurde, ist uralt. Es wurden auch schon viele Antworten versucht – von Agrarrevolutionen über den Feudalismus und das Christentum bis hin zum Buchdruck. Völlig zufriedenstellend war bisher aber kein Erklärungsversuch. Das findet auch Hoffman, Professor für Wirtschaft und Geschichte am California Institute of Technology. Seiner Meinung nach ist die beste bisherige Erklärung die nächstliegende, nämlich, dass Europa bei den Militärtechnologien einen entscheidenden Vorteil hatte, weil es auf dem „alten Kontinent“ einen ständigen Wettbewerb zwischen rivalisierenden Kräften gab, die sich laufend bekriegten und die Kraft des Schießpulvers – eigentlich eine chinesische Erfindung – immer effektiver zu nutzen wussten.

Diese Antwort ist freilich ebenfalls nicht befriedigend, denn die Ursachen dafür bleiben unerklärt. Hoffman hat nun eine umfassende ökonomische Theorie entworfen, die beschreibt, welche Faktoren hinter dem militärischen Wettbewerb stehen, der die überlegenen Waffensysteme hervorbrachte. Er formuliert mehrere Bedingungen, die zusammengenommen die tatsächliche Entwicklung beschreiben: etwa, dass es viele kleine, miteinander verfeindete Staaten gab, deren Herrscher und Eliten ständig um Ruhm und anderen Gewinn kämpften; dass es diesen möglich war, umfassende Ressourcen zu niedrigen politischen Kosten zu mobilisieren; oder dass Innovationen von den Gegnern schnell kopiert und weiterentwickelt wurden.

Hoffmans Analyse ist sehr lesenswert und lehrreich. Warum aber all diese Bedingungen ausgerechnet in Europa erfüllt waren und nirgends sonst, wird damit noch nicht erschöpfend erklärt. Hier spielen wohl viele der anderen, älteren Erklärungsansätze eine Rolle. Die Diskussion über den Sonderweg Europas bleibt also spannend.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2017)

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