Spürt eine Pflanze Schmerzen, wenn sie verletzt wird?

Eine Pflanze fühlt nicht wie ein Mensch. Sie nutzt jedoch eine Vielzahl bioelektrischer Strategien, um sich zu wehren oder zu kommunizieren.

Eine Raupe knabbert ein Tomatenblatt an. Ein Kind pflückt einen bunten Blumenstrauß für seine Mutter. Ein Waldarbeiter sägt einem Baum einen Ast ab. Fügen sie der Pflanze damit Leid zu? „Ja“, sagt Wolfram Weckwerth, Leiter des Departments für Ökogenomik und Systembiologie der Uni Wien, „obwohl Pflanzen natürlich kein Gehirn und keine Schmerzrezeptoren wie Menschen haben.“

Was Gräser, Blumen und Bäume aber sehr wohl besitzen, ist ein ausgeklügeltes bioelektrochemisches System, mit dem sie auf ihre Umwelt reagieren. „Sie können ja nicht weglaufen und nutzen daher andere Mechanismen, um sich zu wehren oder zu kommunizieren“, so Weckwerth. Was die Evolution bei Tier und Mensch in den Bewegungsapparat und die Neurophysiologie investiert habe, habe sie bei Pflanzen in deren molekulare Vielfalt gesteckt.

Streicheleinheiten schüchtern ein

Bereits eine Berührung löst eine ganze Kaskade an Signalen auf der Molekularebene aus. Eine zweimal täglich angefasste Versuchspflanze – die Ackerschmalwand ist die beliebteste Versuchspflanze der Biologen – erreicht etwa nur ein Viertel der Größe einer Kontrollpflanze, die man in Ruhe lässt.

Auch eine Mimose faltet sich sofort zusammen, wenn sie jemand berührt. Die Pflanze verändert dabei rasant den Turgor, das ist der innere Druck des Zellsafts auf die Zellwand. Sogenannte Vakuolen, von einer Membran umschlossene Räume, pumpen sich ähnlich wie Luftballons auf und halten die Pflanze stabil. Fällt der Turgordruck ab, erschlafft sie und wird welk. Kälte und sehr starke Lichteinstrahlung lösen ebenfalls Stress aus: In der Pflanze sammeln sich Sauerstoffradikale, die das Zellgewebe zerstören.

Als Abwehrreaktion entstehen sogenannte Flavonoidsekundärstoffe; das sind Antioxidantien, die der Pflanze helfen, das bedrohliche Szenario zu überstehen. Diese Naturstoffe entfalten ihre Wirkung gegen oxidativen Stress auch in der Nahrung des Menschen. Ebenso bewirkt eine Raupe, die ein Tomatenblatt frisst, eine solch umfassende biochemische Defensive. Als Reaktion auf den „Angriff“ produziert die Pflanze Stoffe, die dem Insekt nicht schmecken oder die Verdauung stören. Durch antibiotische Substanzen – sogenannte Phytoalexine – schützt sie sich auch vor Pilzen und Bakterien.

Noch aggressiver ist die Gegenwehr der Tabakpflanze: Sie warnt den Rest der Pflanze mit eigens produzierten Signalstoffen vor einer Invasion. Durch biochemische Prozesse bildet sie giftiges Nikotin und verscheucht so ungebetene Gäste. Andere chemische Verbindungen, die Pflanzen bilden können, locken wiederum Schlupfwespen an, die ihre Eier in die Raupen der Schädlinge legen.

Kann eine Pflanze also auf ihre Art sehen, hören oder sprechen? Solche menschlichen Begriffe scheinen dem Forscher nicht passend. Jedem solle jedoch bewusst sein, dass Pflanzen Lebewesen sind und mit ihrer Umwelt in einem intimen Austausch stehen. Die molekulare Vielfalt, mit der ihnen das gelingt, verstehe man erst im Ansatz.

Das ein Stück weit zu ändern ist Ziel seiner Forschungsarbeit. An der Uni Wien wurde dazu im Vorjahr das Vienna Metabolomics Center gegründet. Dort arbeiten Chemiker, Geo- und Lebenswissenschaftler zusammen, um den Stoffwechsel in Pflanzen, aber auch in Tieren und Mikroorganismen genauer zu erforschen. [ Foto: Anke Bellaire ]

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2016)

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