LesenLiebenLernenLehren

Buchhandlung
BuchhandlungDie Presse
  • Drucken

Junge Menschen wählen ständig aus dem riesigen Angebot im Internet. Warum sollten sie also nicht in der Lage sein, selbst einen Teil ihrer Schullektüre zu bestimmen?

Würde ich auf die Stimmen zur Zukunft des Lesens hören, müsste ich das Schreiben sofort aufgeben. Sobald es nämlich um junge Leser geht, fühle ich mich wie die Kaulquappe im Unkentümpel. „Die Jugend liest nicht mehr, die hängen alle nur am Smartphone“, raunt es. Dabei hat noch keine Generation tagtäglich so viel gelesen. Die Sorge, dass unsere Urenkel Analphabeten werden, ist (dank neuer Medien) obsolet. Lesen bedeutet aber nicht nur, Statusmeldungen zu checken: Das Lesen von Literatur ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit. Aber um das weiterzugeben, müssen wir aufhören, über die „Lehrbarkeit“ von Literatur nachzudenken, und uns der Frage zuwenden, wie man die Liebe zur Literatur wecken kann.

»Macht der Literaturkanon die Liebe zur Literatur kaputt?«

Dazu ein Selbstversuch: Welche Speise verabscheuen Sie? Wahrscheinlich eine, die Sie früher zu oft essen mussten. Zwänge sind nie förderlich, um Liebe zu stiften. Zwangsheirat zählt als Verbrechen, nicht als Taktik für lebenslanges Glück. Wieso akzeptieren wir es, wenn Schüler gezwungen werden, einen Kanon an Texten zu lesen, zu interpretieren und dafür benotet werden? Eine Gedichtanalyse hat (leider) noch niemandem das Leben gerettet. Literaturlektüre ist nichts, was man wie das Einmaleins können muss, damit man in der kapitalistischen Gesellschaft durchkommt. Die Lektüre von Literatur kann einen todunglücklich Verliebten aufheitern, Lebensrettung ist allerdings nicht ihr primäres Ziel.

Das ewige Muss. Wir lesen, wenn wir krank sind, wenn wir reisen, warten. Lesen begleitet uns in unseren einsamen Momenten. Literatur ist somit vor allem eins: eine Bereicherung. Man wird sie jedoch nie als solche empfinden, wenn man sie mit einem Muss verknüpft oder sich von Gedanken über falsche oder richtige Lesarten blockieren lässt.

Nächster Selbstversuch: Vergleichen Sie die Kritiken eines Romans in drei Feuilletons. Sie werden sich fragen, ob die drei Kritiker dasselbe Buch gelesen haben. Wenn es so in der interpretatorischen Elite zugeht – wie können wir von Schülern erwarten, die eine richtige Interpretation zu liefern? Ich als Autorin kann nicht einmal für meine eigenen Romane eine richtige oder falsche Lesart benennen. Stattdessen sollte man zur Literatur verführen. Literatur kann man in jeden Bereich des Lebens, in jedes Schulfach einbinden – sie beschäftigt sich auch mit allem. Gerade im Sprach-Unterricht, ihrem angestammten Platz, muss es den Raum geben, Literatur zu entdecken, selbst zu entscheiden, was man lesen will.

Maturathema Klappentext. Die Unken greinen: „Aber Schüler sind mit der Auswahl überfordert.“ Jährlich erscheinen 1800 neue Bücher im deutschsprachigen Raum. Wer ist da nicht überfordert? Aber stellt sich nicht gerade deshalb die Aufgabe, dass in der Schule auch das Finden von Literatur vermittelt werden muss? Oder Buchhandlungen zu besuchen? Sich das Handwerkszeug anzueignen, um mit Rezensionen, Covers, Publishing-Business kritisch umzugehen, anstatt Schillers „Glocke“ auswendig zu lernen?

Natürlich, das Lesen von Klassikern ist eine wichtige Erfahrung, zu der man im Unterricht Brücken bauen kann. Aber man kann bis zur Matura nicht den ganzen Kanon lesen. Das ist eine lebenslange Aufgabe, die man kaum verfolgen wird, wenn einem die Literatur vor der Volljährigkeit vergeht. Zudem: Fast alle Filme, Musikalben der Welt sind bloß einen Mausklick entfernt – wieso sollen Leute, die mit einem derart großen Angebot aufwachsen, nicht fähig sein, sich für einen Teil ihrer Lektüre zu entscheiden? Um Literatur zu lieben, braucht man eigenen Geschmack, eigenes Empfinden. Das sollte man schulen. Warum nicht eine Schularbeit über Klappentexte anstatt die millionste Fußnote zu Thomas Mann? Auf meinen Lesereisen traf ich viele engagierte Lehrer, die genau das versuchten, und von der Bildungspolitik einen Stein nach dem anderen in den Weg gelegt bekamen. Die Zentralmatura ist nur ein Höhepunkt der traurigen Entwicklung, denn: Ein Schulabschluss darf nicht wie die Qualitätsüberprüfung von am Fließband gefertigten Auto-Ersatzteilen sein, die eine normierte Performance zum erwünschten Zeitpunkt abzuliefern haben.

Und die Künstler? Aber was die Vermittlung kultureller Güter wie Musik, Film, Kunst, Literatur an kommende Generationen betrifft, sollten nicht nur Lehrer und Eltern zur Verantwortung gezogen werden, sondern auch Künstler. In Frankreich werden Künstler, die hohe staatliche Stipendien bekommen, zu Gesprächen mit Schülern geschickt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Arbeit am epochalen Meisterroman so schlimm gestört wird, wenn man den Schreibtisch alle zwei Monate für drei Stunden verlässt.

Wie gesagt: Literaturlektüre wird niemanden vorm Ertrinken retten. Sie wird keinen Steuerausgleich erstellen. Aber wenn man sich mit ihr anfreundet, wird sie eine lebenslange Bereicherung sein. Daher nicht Literatur lehren. Sondern Literatur lieben lehren.

Steckbrief

Vea Kaiser
ist Schriftstellerin. Sie wurde 1988 in St. Pölten geboren. 2012 veröffentlichte sie ihr Debüt „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“. Ihr aktueller Roman heißt „Makarionissi oder Die Insel der Seligen“.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Wie stark gekrümmt dürfen Gurken sein?
Europa

Brüssler Regelungen: Zu viel des Guten

Jahr für Jahr entstehen in Brüssel hunderte neue Verordnungen und Richtlinien. Die Bürokratie arbeitet oft in guter Absicht, aber mit fatalen Folgen für die EU-Stimmung.
Europafahne - flag of europe
Europa

Verbote, Regeln und viele Gerüchte

Der EU-Bürokratie werden viele sinnlose Gesetze nachgesagt. Doch nicht alle gibt es wirklich.
ENQUETTE-KOMMISSION 'WUeRDE AM ENDE DES LEBENS'
Politik

Wer hat mehr Macht über das Parlament: Obama? Faymann?

In Österreich kontrolliert die Regierung die Gesetzgebung – es ist damit viel mehr Normalfall, als oft geglaubt wird.
Grossdemonstration der Blockupy Bewegung anlaesslich der Einweihung der EZB Europaeische n Zentralba
Wissenschaft

Die Menschheit ist heute so friedlich wie noch nie

Dass die Gewalt explodiert, kommt uns nur so vor, weil unser Gedächtnis kurz ist. Wahr ist das Gegenteil: Im Lauf der Geschichte ging Gewalt frappant zurück. Psychologe Steven Pinker hat es bilanziert.
Wissenschaft

War früher alles besser?

Mythos und Wahrheit - ein Überblick.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.