Zurück in die Stadt

Fest steht: Zersiedelung wird zu teuer, Einkaufszentren außerhalb der Wohngebiete zerstören die Stadtkerne. Die Zukunft heißt: „Siedlungen der kurzen Wege“. Ein Ausblick.

Mitte Oktober wurde das G3- Shopping Center in Gerasdorf im Norden Wiens eröffnet: 140 Geschäfte mit insgesamt 60.000 Quadratmeter Verkaufsfläche, Parkplätzen und überdachten Fahrradabstellplätzen. Erfolgreich beworben wurde das als „Wohlfühlresort“. Prompt kam es zu Staus auf den Straßen dorthin. In derselben Woche schloss eine große Textilhandelskette ihre Filiale ein paar Kilometer weiter im Wiener Stadtgebiet, in Wien-Floridsdorf. Selten wird der Zusammenhang so deutlich sichtbar: Seit 1995 hat sich die Fläche aller Einkaufszentren in Österreich mehr als verdoppelt.

Beispiel Wolfsberg in Kärnten: In den 1970er-Jahren wurde eine Umfahrungsstraße gebaut, später ein Zubringer zur Südautobahn, an denen ab den 1980er-Jahren Fachmärkte, Tankstellen und Diskotheken gebaut wurden. Das ist Raumplanung in Österreich: Der Bund baut diese Straßen, und die Gemeinde freut sich über die Steuereinnahmen der neuen Geschäfte. Irgendwann war der Zenit überschritten, und immer mehr Geschäfte in der malerischen Innenstadt von Wolfsberg mussten schließen. Wenn sich die leblos finsteren Gassenlokale einmal lückenlos aneinanderreihen, werden auch die Bewohner eine derart unwirtliche Stadt verlassen. Dann ist „Edge City“, wie Raumplaner Joel Garreau das US-amerikanische Vorbild nennt, realisiert – eine ringförmige Stadt, die an einen Donut erinnert: mit Einfamilienhäusern und Shoppingcentern am ehemaligen Stadtrand. Und in der Mitte: Leerstand.

In manchen Städten hat man die Zeichen der Zeit erkannt: In Leoben etwa wurde das Einkaufszentrum unmittelbar hinter den prächtigen Stadthäusern am Hauptplatz errichtet. Auf dem Areal des ehemaligen Gefangenenhauses, das mit dem Neubau des Justizzentrums frei geworden war. Das erspart nicht nur der Umwelt die täglichen Verkehrsströme an die Peripherie: Am Hauptplatz von Leoben stehen heute keine Geschäftslokale leer, und die Stadtväter jubelten im Vorjahr, als Leoben im Ranking der Einkaufsstädte Österreichs Platz neun erreichte.

„Ein Blick nach Deutschland zeigt: Dort haben Siedlungen klar umrissene Strukturen. Das heißt, modernes Einkaufen muss nicht automatisch ausufernde Einkaufszentrum auf der grünen Wiese bedeuten“, erklärt Roland Gruber, Initiator der „Leerstandskonferenz“, die heuer im Oktober zum zweiten Mal im steirischen Eisenerz stattfand. „In Deutschland kann die Raumplanung viel strenger sein, weil sie über der Gemeindeebene angesiedelt ist. Das österreichische Spiel, dass ein Einkaufzentrum bei dem einen Bürgermeister abblitzt und dann einfach in der Nachbargemeinde bauen darf, kann dort nicht gespielt werden.“ Roland Gruber hat nicht nur die „Leerstandskonferenz“ initiiert, er arbeitet mit seinem Architekturbüro „Nonconform“ auch ganz praktisch an den Problemzonen heimischer Gemeinden. Erfunden hat er dafür eine Form der Bürgerbeteiligung, die sich mancher Politiker als Vorbild nehmen könnte. „Nonconform“ baut für drei Tage etwa auf einem Marktplatz ein temporäres Architekturbüro auf und lädt sämtliche Bürger ein, ihre Ideen vorzubringen – als Experten für ihre nächste Umgebung. Daraus entstehen unterschiedliche Konzepte, über die die Bürger abstimmen dürfen. Das Resultat: gute Architektur und hohe Akzeptanz.

Mit dieser Methode ist es in der Stadt Haag oder in Waidhofen an der Ybbs sogar gelungen, die Ortskerne wiederzubeleben. Der Gemeinderat entschloss sich, die Geschäftsmieten über drei Jahre zu stützen – mit einem von Jahr zu Jahr geringeren Betrag. Die Befürchtung, die Mieter der Lokale würden nach Ablauf der drei Jahre wieder ausziehen, trat nicht ein. Sie blieben. Das hatte zur Folge, dass sich auch wieder ein Gasthaus ansiedelte und etliche Menschen zum Wohnen ins Zentrum zurückkamen.

Landauf, landab ist eine ganze Reihe kreativer Projekte entstanden, die neue Nutzungen für leer stehende Geschäftslokale ausprobieren: Die Wiener Architektengruppe „Urbanauts“ hat eine ehemalige Schneiderei im vierten Wiener Gemeindebezirk zu einem Hotelzimmer umgebaut. Das Konzept geht auf, weitere Gassenlokale als Hotelzimmer sind in Bau. Im niederösterreichischen Neunkirchen gründeten junge Planer eine „Ideenwerkstatt“, um leer stehende Lokale auf Dauer oder auch nur übergangsweise neu zu nutzen, zum Beispiel durch Künstler oder für Vereine. Da ist viel Überzeugungsarbeit zu leisten, denn die Künstler haben meist wenig Geld, und die Eigentümer erwarten sich hohe Mieten für ihre Geschäftslokale – wie früher in besseren Zeiten.

Das Thema Leerstand geht weit über leer stehende Geschäftslokale hinaus. Neue Ansätze in der Siedlungspolitik zeichnen sich ab, die Gemeinden erkennen, dass die Zersiedlung auf Dauer nicht bezahlbar ist. Kompakte Siedlungen, bis 1950 eine Selbstverständlichkeit, kosten weniger Kilometer an Leitungen und Wegen: Die Müllabfuhr, aber auch mobile Dienste haben kürzere Wege und sind damit für die Bürger billiger. Eine Altenpflegerin in Niederösterreich etwa verbringt circa ein Drittel ihrer Arbeitszeit im Auto.

Ottensheim bei Linz, Silz in Tirol, Mistelbach in Niederösterreich und Feldkirch in Vorarlberg haben jeweils diese neue Strategie gewählt: Bauland außerhalb des Siedlungsgebietes wird in Grünland umgewidmet, ehemalige Gewerbegebiete und andere innere Brachflächen werden für neue Nutzungen gewonnen. Eigentümer bewegt man zum Verkauf unbebauter Baulücken, und Bauinteressenten werden beim Umbau alter Gebäude kostenlos beraten, der öffentliche Verkehr im Ort wird verbessert. Erreichen will man attraktives Wohnen nahe dem jeweiligen Ortskern, „Siedlungen der kurzen Wege“ lautet das Motto für die Stadt mit zukunftstauglicher Energieeffizienz. Zukunftstauglich sind solche kurzen Wege nicht zuletzt für die immer älter werdende Gesellschaft. Alte Menschen sind darauf angewiesen, ihre Besorgungen zu Fuß erledigen zu können und auf der Straße vor dem Haus auch einmal Passanten für ein Schwätzchen zu finden.

Eisenerz in der Steiermark ist ein drastisches Beispiel für einen erfolgreich gestalteten Schrumpfungsprozess. Weil der Bergbau heute im Vergleich zu früher mit einem Bruchteil an Arbeitskräften auskommt, hat die Gemeinde mit dem pittoresken Ortskern aus der Renaissance seit den 1950er-Jahren den Bevölkerungsstand um weit mehr als die Hälfte reduziert: von 13.000 auf 5000. Daher werden nun die stadtnahen Wohnsiedlungen saniert – die nur mit dem Auto erreichbaren Wohnbauten werden als Ferienwohnungen verkauft oder abgerissen. Die Bewohner wurden bei ihrer freiwilligen Übersiedlung unterstützt und betreut. Manchen alten Menschen ist es schwer gefallen, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen. Die meisten waren aber froh, aus diesen Häusern ausziehen zu können, in denen sie oft alleine eine ganze Stiege bewohnten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2012)

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