Schere. Stein? Papier!

Dass Papierarchitektur mehr ist als „simpler“ Modellbau, beweisen derzeit fünf Künstler in der Ausstellung „Architectures de papier“. Ein Besuch in Paris.

Bereits im sechsten Jahrhundert verbreitete sich in China Jianzhi,die älteste Form der Papierschneidekunst. Seither entstand in Kulturen rund um die Welt eine Vielzahl unterschiedlicher Traditionen, von Kiri-e und Kirigami in Japan bis hin zu Papel picado in Mexiko. Oft wurden ganze Geschichten mit den Mitteln dieser Volkskunst erzählt. In Europa entwickelte sich mit dem späten 17. Jahrhundert ein Schwerpunkt des Bauens mit Papier: Eigens gefertigte Bastelbögen erlaubten es Kindern, berühmte Bauwerke nachzubilden. Die Pädagogen der Aufklärung förderten solche konstruktiven Spiele ebenfalls, und noch später, in den 1920er-Jahren, ließen Josef Albers und László Moholy-Nagy ihre Studenten am Bauhaus Konstruktionsaufgaben mit Papier und Schere lösen. Die Faszination des empfindlichen Materials ist bis heute lebendig – nicht nur unter Kindern.

Solide Strukturen wie Häuser und Städte werden von zeitgenössischen Künstlern auf unterschiedliche Art „zu Papier gebracht“. Die Schwäche des Werkstoffs ist dabei zugleich seine Stärke. Die Fragilität des Materials assoziiert Bilder aus dem Bereich des Traums und der Fantasie – Welten, die in Schatten und Silhouetten ihren Ausdruck finden. Bei Stéphanie Becks Installation „Aviary“ handelt es sich auf den ersten Blick um ein relativ einfaches, stilisiertes Stadtpanorama: Wohnhäuser, Kräne und eine Brücke, geformt aus weißem Papier. Bei näherer Betrachtung setzt sich diese „Stadt“ aber aus Vogelkäfigen zusammen: In dem entstehenden Schattentheater übernehmen Vögel die Rolle der Menschen.

Scherenschnitte werden seit dem 16. Jahrhundert traditionell aus schwarzem Papier gefertigt. Italo Calvinos Buch „Die unsichtbaren Städte“ aus dem Jahr 1972 inspirierte Béatrice Coron zu einer gleichnamigen Serie („Invisible Cities“, 2008), bestehend aus drei mehr als acht Meter langen Papierbahnen. Coron wollte Calvinos Fantasiestädte in einem zeitgenössischen Kontext abbilden. Die Arbeiten zeigen unterschiedliche Versionen einer im Umbruch befindlichen Welt: Tatsächlich erinnert das Format an eine Weltkarte, auf der jeder Ort mit jedem anderen verknüpft ist. Auch Mathilde Nivet arbeitet mit schwarzem Papier: Ihre Häuserfassaden („Shadow City“) winden sich als ziehharmonikaförmige Standbilder durch den Raum – die einzelnen Gebäude werden dabei ausschließlich durch ihre Fenster charakterisiert.

Noch komplexere Schnitt- und Falttechnik demonstrieren die Werke von Ingrid Siliakus. Aus einem einzigen Blatt Papier entstehen das Chrysler Building in New York, das Guggenheim Museum in Bilbao und ganze Fantasiestädte: Origami-Architektur ist das Spezialgebiet der niederländischen Künstlerin. Entwickelt wurde die Kunstform in den frühen 1980er-Jahren von dem japanischen Architekten und Professor Masahiro Chatani. Nachdem sie seine Werke einige Jahre lang studiert hatte, begann Siliakus mit eigenen Projekten: Als Inspiration dienen ihr vorzugsweise Bauwerke von Architekten wie Hendrik Petrus Berlage und Antoni Gaudi, aber auch abstrakte Skulpturen à la M.C. Escher.

Anders als bei der herkömmlichen Origami-Technik, bei der Schnitte üblicherweise tabu sind, ist die Origami-Architektur ein Zusammenspiel aus Schneiden und Falten. Präzise Schnitte ermöglichen das Herausklappen der gewünschten Teile. Dieser Vorgang kann auf unendlich vielen Ebenen fortgesetzt werden, sodass verschachtelte Strukturen mit einer perspektivisch korrekten Dreidimensionalität entstehen; um den Werken Stabilität zu verleihen, arbeitet Siliakus mit Papierstärken von 160 bis 300 Gramm. Der Entstehungsprozess kommt für die Künstlerin dem Bauen gleich: Schicht für Schicht wird das Gebäude erschaffen, gleichsam aus dem Papier herausgelöst. Einem fertigen Objekt gehen mindestens zwanzig Prototypen voraus, viele Stunden höchster Konzentration: „Die Arbeit mit dem Papier zwingt mich zur Bescheidenheit“, meint Siliakus. „Das Medium hat einen eigenen Charakter, die Arbeit erfordert meditative Präzision.“

Das selbst erklärte Ziel maßstabgetreuer Abbildung bricht Peter Callesen ganz bewusst auf. Der dänische Künstler fertigt neben Papierschnitten auch – mitunter raumfüllende – Installationen an, die häufig Träume, Märchen oder schlicht Unmögliches zum Thema haben. Grundlage dieser Installationen ist häufig das „Morphem“ der Papierindustrie: Das schlichte A4-Blatt „ist heutzutage wahrscheinlich das gebräuchlichste Medium für die Speicherung von Information – deshalb nehmen wir seine Materialität kaum noch wahr“, meint Callesen. „Ich habe das Gefühl, dass wir alle mit diesem Papier etwas verbinden, gleichzeitig ist das A4-Blatt neutral und wartet darauf, mit unterschiedlichsten Bedeutungen versehen zu werden. Das dünne weiße Papier verleiht den Papierskulpturen eine Zerbrechlichkeit, die die tragischen und romantischen Themen meiner Arbeiten unterstreicht.“

Den in Paris ausgestellten „paper cut sculptures“ attestiert Callesen sogar eine religiöse Ebene. Die Atmosphäre einer „anderen“ Wirklichkeit entsteht hier nicht aus Schattenspielen, wie bei Beck oder Nivet, sondern aus der Spannung zwischen Dimensionen. Flache Papierbögen vollziehen die fast magische Transformation in eine dreidimensionale Realität: Die ausgeschnittene Form einer Burg wird zum Grundstück des entsprechenden Papiermodells („Icecastle“, 2012), über die Umrisse einer Kathedralenfront ragen die zerstörten Überreste der Fassade empor („Erected Ruin“, 2007). Das Grundstück hinterlässt jeweils eine Leere, die von dem dreidimensionalen Objekt nur teilweise gefüllt wird, der es aber dennoch verhaftet bleibt. Der intuitive Versuch des Betrachters, Ausgangsmaterial und Endprodukt in Deckung zu bringen, resultiert in der Faszination einer visuellen Spannung – und einem Hauch von Melancholie. ■


Die Ausstellung „Architectures de papier“ ist noch bis 17. März in Paris zu sehen, in der Cité de l'architecture et du patrimoine, 1 Place du Trocadéro. Geöffnet Mi–Mo, von 11–19 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2012)

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