Im Meer der Namen

Wie sind logistische und didaktische Anforderungen an eine Gedenkstätte mit der Wahrung ihrer Würde zu vereinen? Eine Nachschau in der Gedenkstätte Mauthausen, drei Wochen nach der Präsentation ihrer Neugestaltung.

Das Konzentrationslager Mauthausen im strömenden Regen: So soll es sein. Die viel zu harmlos wirkende Betulichkeit seiner Architektur, wuchtige Steinmauern und Stacheldrahtzäune inklusive, bildet auch ohne ihre Bettung in mildes Sonnenlicht einen schmerzhaften Kontrast zu den Ungeheuerlichkeiten, die hier geschehen sind. Wir stellen das Auto auf einem der großen, im Zusammenhang mit dem Besucherzentrum errichteten Parkplätze im Süden des Lagers ab. Über eine Freitreppe aus dem Hof vor der Kommandantur hinaufsteigend, gelangen wir auf den Appellplatz, das Rückgrat der Anlage. Hier tummelt sich eine überraschend große Menge von Besuchern. Einige Familien sind mit kleinen Kindern – manche sitzen noch im Kinderwagen – unterwegs. Überhaupt: viele junge Leute. Österreichische Schulklassen? Unwahrscheinlich an einem Freitagnachmittag. Man hört Italienisch, Amerikanisch, slawische Klänge. Mauthausen heute: die Gedenkstätte als touristisches Angebot.

Es war die Aufgabe des in Linz ansässigen Büros ArgeMarie (Siegfried Miedl und Manuel Schilcher), die aus dieser Tatsache erwachsenden logistischen und didaktischen Anforderungen an die Gedenkstätte mit der Wahrung ihrer Würde zu vereinen. Der Ort erklärt sich in seiner heute „besenreinen“ Erscheinung nicht selbst. Die Besucher müssen über die einstigen Funktionen der Anlage ebenso informiert werden wie über die hier gesetzten Handlungen. Die historische Bausubstanz zieht als Schauplatz von Ereignissen, denen wir heute differenzierte Grade menschlicher Grausamkeitzuordnen, der Information enge Grenzen. Aus diesem Grund konzentrieren sich die Eingriffe zur Herstellung einer in mehrerlei Hinsicht schützenden Ausstellungssituation zunächst auf ein Gebäude, das bereits in den1970er-Jahren zu diesem Zweck adaptiert wurde. Dieses vermutlich als Krankenstation für das Lagerpersonal – für die Häftlinge gab es im Krankheitsfall ein eigenes „Sanitätslager“ ohne medizinische Versorgung –errichtete Haus war zu Kriegsende nochnicht fertiggestellt.

ArgeMarie hat die vorgefundenenAusstellungseinbauten entfernt, die einmal abgebrochenen Wände jedoch nicht rekonstruiert, sondern nur ihren Verlauf in etwas dunklerem Grau auf dem grauen Boden sichtbar gemacht. Links vom schon früher durch einen gläsernen Windfang mit automatischen Schiebetüren an heutige Verhältnisse angepassten Haupteingang umfängt eine in Gelbgrün gehaltene Pultlandschaft das hier arbeitende Ausstellungspersonal. Der gleiche Farbton findet sich im Mobiliar wieder, mit denen die dahinter anschließenden, thematisch nicht zugeordneten Besucherbereiche ausgestattet sind.

Auf der anderen Seite des Einganges hat ArgeMarie die Struktur des durch einen Mittelgang erschlossenen Hauses für ihre Ausstellungsarchitektur genutzt, wobei sie auch hier abgebrochene Wände als Volumen zwischen den Einbauten frei gelassen respektive deren Konturen auf dem Boden sichtbar gemacht hat. Ein weißes Tor, von einer Lichtdecke über die gesamte Gebäudetiefe gespannt, stellt die Verbindung zwischen dem Heute und der Vergangenheit her und stimmt die Besucher auf das Gezeigte ein.

Während in der mittigen Erschließungsachse die geopolitischen Vorgänge im chronologischen Verlauf abgebildet werden, schildern die Räume links davon die Geschichte des Lagers, die Räume rechter Hand die persönlichen Schicksale der Häftlinge. Unterschiedliche, nach hinten dunkler werdende Grautöne verdeutlichen den zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang der drei Erzählstränge. Die der Geschichte des Lagers gewidmeten Einbauten sind, der Rigidität des Terrorsystems nachspürend, streng rechtwinkelig ausgeführt und angeordnet. Auf der anderen Seite ist die Geometrie gebrochen, und die Form der Präsentation reagiert auf das jeweilige, auf eine bestimmte Person verweisende Objekt. Das Tageslicht wird zur Schonung der Exponate fast zur Gänze durch vor die Fenster gesetzte Schirme ausgeblendet. Doch sind zwei mit besonders großen Fenstern ausgestattete Zonen mit Bezug zum Appellplatz eingerichtet, die durch vitrinenähnlich gestaltete Ausblicke am Ende der Ausstellung ergänzt werden.

Für das Untergeschoß des Gebäudes, das durch eine breite, nachträglich eingebaute Stahltreppe erschlossen ist, hat ArgeMarie eine Ausstellungsarchitektur entwickelt, die stark mit der Wirkung des Bestandes arbeitet. In einem von Bruchsteinmauern und Stahlbeton geprägten Raum bremsen zueinander versetzt angeordnete pulthohe Körper den Besucherstrom. Ihre den Eintretenden zugewandte Seite ist mit Fotos der jeweiligen Tatorte in ihrem heutigen Zustand bedruckt. Auf der anderen Seite erläutern Texte, Bilder und ein spezifisches Exponat die verschiedenen im Lager praktizierten Tötungsarten. Auf diese Weise gelingt es, den anschließenden Pietätsbereich von illustrierenden Gesten frei zu halten. Hier hat ArgeMarie ein System aus Stegen auf den Boden gesetzt, die dabei helfen, diesen höchst sensiblen historischen Boden mit dem gebührenden Respekt zu betreten. OhneGeländer zwar, doch in der Fuge zum Boden hinterleuchtet ausgeführt, dienen die Stege der geordneten Wegführung.

An entscheidender Stelle hochgefaltet, tragen die Stege sparsam gesetzte Inschriften und hindern die Besucher etwa am Hantieren mit den Krematoriumsöfen oder am Betreten der Gaskammer. Einen besonderen Stellenwert nimmt der „Raum der Namen“ ein: In den von vier Stahlbetonstützen strukturierten Raum mit seinem stark zum Ausgang hin fallenden Lehmboden hat ArgeMarie eine horizontale Ebene aus Glastafeln mit den etwa 81.000 Namen der im Lager Umgekommenen eingezogen. In diese Ebene wiederum sind Stege eingeschnitten, die es ermöglichen, das Meer von Namen zu durchschreiten. Reicht es beim Eintreten noch bis zum Knie, versinkt man dem Ausgang zu schon bis über die Hüften in den Namen der Toten.

Weiter auf dem Weg: eine kaltweiße Lichtdecke vor der Gaskammer; Hunderte Gedenktafeln, an die Wände des Krematoriums gehängt und gelehnt; der Leichenkühlraum; die Genickschussecke; und eine kleine Türe mit dem Wort: Ausgang. Es weht ein kalter Wind. Der Regen hat nicht nachgelassen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2013)

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