Der lange Marsch

Gegründet, als von Baukultur noch kaum die Rede war: Das Haus der Architektur in Graz wird 25 Jahre alt.

Urteile über architektonische Qualität stehen immer unter dem Verdacht, auf reine Geschmacksfragen hinauszulaufen. Was baukünstlerisch richtig oder falsch, schön oder hässlich ist, lässt sich nicht mit wissenschaftlicher Exaktheit bestimmen. Architektonische Qualität ist eine unscharfe Größe. Das heißt aber nicht, dass man über sie nicht präzise diskutieren könnte. Es ist wie mit der Qualität des Essens: Natürlich geht es hier um individuellen Geschmack, aber es ist möglich, jenseits dieses Geschmacks Konsens über die Qualität der Zutaten und der Zubereitung zu erzielen. Allerdings hat die Kochkunst im Vergleich zur Baukunst den großen Vorteil, dass kaum jemand gezwungen ist, zu essen, was ihm nicht schmeckt, während man missliebiger Architektur großräumig ausweichen muss – und das in der Regel viele Jahrzehnte lang.

Ein gutes Haus zu bauen ist schon deshalb komplexer, als ein gutes Menü zu kochen. Dazu kommt, dass offene, moderne Gesellschaften mehr Handlungsspielraum bieten als geschlossene Gesellschaften und damit auch mehr Fehlerquellen eröffnen. Traditionelle Lösungen, die in geschlossenen Gesellschaften für Stabilität gesorgt haben, funktionieren oft nicht mehr, weil sich die Problemlagen durch Dimensionssprünge radikal verändert haben. Die Moderne muss sich daher ihre Fundamente selbst schaffen. In der Architektur kann das nicht nur im Anlassfall eines Bauprojekts geschehen. Es braucht Institutionen, in denen kontinuierlich verhandelt wird, was unter Qualität zu verstehen ist.

Zu diesen Institutionen gehören Ausbildungs- und Forschungsstätten, also die Universitäten, Berufs- und Fachhochschulen, sowie die Berufsverbände. Neben diesen Institutionen hat sich ein neuer Typus von Institution etabliert, der unter dem Begriff der „Vermittlung“ auftritt. Ganz neu ist der Typus nicht: Schon die Zentralvereinigung der Architekten und der Österreichische Werkbund, 1907 und 1912 gegründet, richteten sich mit dem Ziel einer „Hebung des künstlerischen Geschmacks“ nicht nur an die Produzenten, sondern auch an die Nutzer von Architektur. Die Wiener Werkbundsiedlung Anfang der 1930er-Jahre war wahrscheinlich das größte Projekt der „Architekturvermittlung“, das in Österreich je stattgefunden hat.

Die erste Vermittlungsinstitution im engeren Sinn war die 1965 gegründete Österreichische Gesellschaft für Architektur (ÖGfA). In ihrem Gründungsdokument heißt es explizit, dass „Baukultur nicht allein von Fachleuten getragen wird, sondern von jedem Bürger“, weshalb es nötig sei, „die notwendigen Verbindungen zu den Wissenschaften, Künsten, zu Wirtschaft und Politik aufzuzeigen und zu pflegen“. Wie ihr Name sagt, verstand sich die ÖGfA als bundesweit agierende Institution. Diesem Anspruch konnte sie nie gerecht werden: Sie war und blieb eine Wiener Institution mit gutem internationalem Netzwerk, aber wenig Wirksamkeit in den Bundesländern.

Während die ÖGfA ohne Unterstützung der Politik als Bottom-up-Institution entstanden ist, konnte das Haus der Architektur in Graz von Anfang an auf die Unterstützung durch die steirische Landespolitik – zur Zeit seiner Gründung 1988 insbesondere durch den Leiter der Hochbauabteilung des Landes, Wolf-Dieter Dreibholz – bauen. Das HDA ist bis heute ein Verein, dessen Vorstand zu einem guten Teil von anderen Institutionen nominiert wird und damit unmittelbar in ein Netzwerk von Beziehungen eingebettet ist: Land Steiermark, Stadt Graz, Forum Stadtpark, Architektenkammer, Zentralvereinigung der Architekten, Technische Universität Graz.

Das HDA ist nach der ÖGfA die älteste unter den inzwischen in allen Bundesländern existierenden Institutionen der Architekturvermittlung: das Vorarlberger Architekturinstitut, das aut in Tirol, die Initiative Architektur Salzburg, das Architekturforum Oberösterreich, das ArchitekturHaus Kärnten, der Verein ORTE in Niederösterreich, der Architekturraum Burgenland und das Architekturzentrum Wien. Die Bundesländerinstitutionen haben sich gemeinsam mit der ÖGfA und der Zentralvereinigung der Architekten eine gemeinsame Plattform geschaffen, die Architekturstiftung Österreich.

Die Entwicklung, die das HDA in den letzten 25 Jahren genommen hat, ist typisch. Am Anfang stehen das Engagement einzelner Personen und konkrete Anliegen, für die ehrenamtlich gearbeitet wird. Die Zusammenarbeit mit den öffentlichen Förderern ist geprägt durch persönliche Netzwerke, die nach jeder Verschiebung politischer Machtverhältnisse neu aufgebaut werden müssen. Das HDA hat einige dieser Wechsel überstanden, ohne sich inhaltlich verbiegen zu müssen. Auf seiner Homepage ist das Programm seit 1989 dokumentiert: Die ersten Jahresthemen sind geprägt von der Auseinandersetzung mit der Stadt, ihren peripheren Zonen, ihrer Verbindung zur Landschaft. Eine Phase lang geht es um die Grundlagen der Baukunst: Architektur und Musik, Angemessenheit der Mittel, die Kunst der Linie. Dann um die geänderte Rolle und Funktion der Disziplin: Mehrwert Architektur, das Image des Berufs, seine Standesvertretung und wirtschaftliche Basis im internationalen Kontext. In der nächsten Phase um Region und Ort als prägende Faktoren.

Die ersten 20 Jahre lang wurde das Programm von wechselnden operativen Vorständen entwickelt und umgesetzt. Das garantiert frischen Wind, hat aber den Nachteil, dass jeder Architekt ein Architekturzentrum für sich ist oder das zumindest allen anderen unterstellt. Architekturvermittlung von Architekten für Architekten leistet zwar wichtige Beiträge zur Selbstreflexion und zur Entwicklung der Disziplin, das Verständnis für Baukultur im Allgemeinen hebt sie aber kaum.

Seit 2008 hat das HdA mit Eva Guttmann eine Geschäftsführerin, die das Programm in Abstimmung mit dem Vorstand auch inhaltlich verantwortet. Seither ist das Programm stärker auf das allgemeine Publikum ausgerichtet. Dazu passt, dass das HdA 2008 seinen Standort verlegt hat: von der etwas abgelegenen, sehr großzügigen Villa in der Engelgasse ins Palais Thinnfeld im Zentrum der Stadt, unmittelbar neben dem Kunsthaus, mit einem Bruchteil der Fläche, aber der Chance, neues Publikum zu erreichen.

Die „wilden Jahre“ des HdA müssen damit nicht endgültig vorbei sein. Wenn es seine weit verzweigten Wurzeln pflegt, wird es auch weiterhin Unerwartetes produzieren. Das gilt auch für die anderen Institutionen der Architekturvermittlung in Österreich, die unterschiedlich weit auf dem Weg der „Professionalisierung“ gegangen sind. Mit dem Architekturzentrum Wien, das gerade seine hervorragende Sammlung in der Ausstellung „Das Gold des AzW“ zeigt, ist eine dieser Institutionen gerade auf dem Sprung zum Architekturmuseum. Dass Baukultur wichtig ist und ähnlich gefördert werden muss wie die Musikkultur – von den Philharmonikern bis zur Blasmusik– sollte sich auf allen politischen Ebenen herumgesprochen haben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2013)

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