Drei Jahre danach

2010 habe ich an dieser Stelle behauptet, „einen der wichtigsten Beiträge zum Wiener Wohnbau der letzten Jahre“ vorzustellen. Und wie ist der Eindruck heute? Tokiostraße, Wien-Donaustadt: ein Wiedersehen.

Architekturkritik kommt meistens zu spät. Ein Theater bleibt leer, wenn sich die Verrisse häufen, ein lau kritisiertes Buch verkauft sich schlecht. Schlechte Architektur dagegen bleibt, von Kritik weitgehend ungerührt, jahrzehntelang im Weg stehen. Architekturkritiker behaupten daher gerne, für die Zukunft zu schreiben, in der Hoffnung, dass gute Beispiele zum Vorbild werden und ein Verriss die Wiederholung von Fehlern verhindert.

Insofern kommt Architekturkritik aber auch zu früh. Sie erfolgt meist unmittelbar nach der Fertigstellung, bevor ein Bauwerk beweisen musste, dass es alltagstauglich ist und von den Nutzern in seinem Potenzial auch verstanden und angenommen wurde. Wenn ein Gebäude nach seiner Eröffnung wieder als Architektur in die Zeitung kommt, dann meistens Jahrzehnte später, wenn die nicht mehr vorhandene Alltagstauglichkeit die Substanz gefährdet und das Denkmalamt gegen einen Abriss oder Umbau einschreitet.

Der Wohnbau in der Tokiostraße von Artec-Architekten wurde 2010 fertiggestellt und hat bis zur denkmalpflegerischen Behandlung noch einen Weg vor sich. Ich habe das Haus im Jahr 2010 an dieser Stelle im Spectrum als „einen der wichtigsten Beiträge zum Wiener Wohnbau der letzten Jahre“ vorgestellt und mit Lob nicht gespart: ein genialer Mix aus gestapelten Wohntypen sei hier zu finden; hohe Dichte, aber trotzdem viel Licht und Luft; raffinierte Übergänge zwischen öffentlichen und privaten Bereichen; viele Terrassen und Loggien als wohnungsnahe Freiräume, die sich die Benutzer noch gärtnerisch gestalten würden; viel soziale Infrastruktur, etwa ein doppelgeschoßiger Partyraum, Schwimmbecken mit Liegewiese auf dem Dach und eine offene Erdgeschoßzone, die sich die Bewohner für Feste aneignen könnten. Dieses Programm ist in einer baukünstlerischen Eigenart umgesetzt, die aus der Wohnhausanlage einen urbanen Ort macht, den man sich merkt. Ein warmgrauer Verputz und Sichtbeton an der Fassade stehen im Kontrast zu kräftigen Rot- und Gelbtönen in den Hallen und Treppenhäusern. Die Fassade zur Tokiostraße hin ist ein dreidimensionales Vexierspiel aus schrägen Stahlrohren in einem raffinierten Muster, und abends leuchtet der Partyraum an der Stirnseite wie eine rote Laterne in den Straßenraum.

Nicht alle Leser teilten diese Meinung. Die Fotos zeigten das Haus unmittelbar vor der Besiedlung, und es gab den üblichen Leserbrief, der mich darauf hinwies, dass nur Architekten Sichtbeton schön finden, aber auch einen anderen, der das Haus als formalistisch und am Leben vorbeigeplant kritisierte. Gegen diese Fundamentalkritik muss sich das Haus selbst wehren, dachte ich mir damals, und notierte mir eine Besichtigung nach ein paar Jahren im Kalender.

Letzte Woche war es so weit. Begleitet von einem der Geschäftsführer der Wohnbaugenossenschaft „Neues Leben“, Johann Gruber, durfte ich das Haus nach drei Jahren Betrieb besuchen. Von der Betreiberseite hat das Haus die Erwartungen erfüllt; einzige Ergänzung war der zusätzliche seitliche Abschluss einer Erschließungshalle durch ein Kunststoffgewebe, da im Winter an windigen Tagen Flugschnee in die Halle geweht wurde.

Dass die Bewohner das Haus in Besitz genommen haben, ist deutlich zu sehen. Die privaten Kleinstgärten auf den Terrassen und Balkonen sind begrünt, je nach gärtnerischem Talent mit unterschiedlicher Dichte. Auch in der Erschließungshalle sind die Vorbereiche vor den Wohnungen genutzt, freilich großteils als Abstellplätze für Fahrräder und Kinderwägen. Nur vor einer Wohnung ist ein kleiner Sitzplatz mit Kaffeehaustisch aufgebaut, der aber eher als symbolische Geste wirkt. Es gibt auch hier einiges an Grün, in den oberen, gut belichteten Ebenen wuchert vor einer Wohnung sogar ein kleiner Empfangsdschungel aus Topfpflanzen. Im öffentlich zugänglichen Hof ist der Rasen gepflegt, die Betonwände werden von Pflanzen erobert und haben ihre Härte verloren. Ein kleines „Nimm ein Sackerl“-Hinweisschild im Rasen weist auf potenzielle Interessenskonflikte in einem halböffentlichen Grünraum hin. Schon mehrmals hätte die Hausverwaltung mit dem Gedanken gespielt, erklärt Johann Gruber, das Problem durch einen Maschendrahtzaun mit Tür zu lösen, sei aber davon zu überzeugen gewesen, dass damit eine wesentliche Qualität des Hauses zerstört würde: die hohe Dichte durch ein Angebot an gut gestalteten öffentlichen und halböffentlichen Freiräumen zu kompensieren.

Zu diesen Räumen gehört auch die Dachterrasse mit Schwimmbecken im Trakt zur Tokiostraße, die allen Bewohnern der in Summe 100 Wohnungen zur Verfügung steht. Die Terrasse ist geteilt, im vorderen Bereich liegt das Becken, dann geht es über ein paar Stufen hinunter auf die Liegewiese. Hier trifft man auf Bewohner, die erzählen, dass sie mit dem Haus sehr zufrieden sind. Es gebe Klagen über Lärmbelästigung durch die Straßenbahn in der Tokiostraße, deren Fahrgeräusch durch die offene Erdgeschoßzone auch in der Halle merkbar sei. Überhaupt: Benutzt werde diese Halle nur als luxuriöser Abstellplatz für Fahrräder, und auch der Partyraum sei kaum in Betrieb. Die übrigen Kritikpunkte beziehen sich auf Details, die Ausführung des Sichtbetons und punktuelle Wasserschäden in der Sockelzone des Verputzes in der zweiten Eingangshalle.

Die Überraschung des Besuchs ist, dass es keine Überraschungen gibt. Das Haus grünt sich unter tatkräftiger Mithilfe der Bewohner ein. Die halböffentlichen Zonen funktionieren nicht, oder genauer: Sie haben in unserer Gesellschaft keinen praktischen Wert mehr, sondern einen symbolischen. Wer in Kagran unter Menschen sein möchte, geht nicht zum Nachbarn, sondern ins Donauzentrum. Abschaffen darf man diese Zonen dennoch nicht: Sie inszenieren den Abstand, den wir zueinander brauchen, und machen das Leben in dichter Packung erst erträglich.

Das Haus in der Tokiostraße hat auch das Glück, in einem der wenigen städtebaulich gelungenen Entwicklungsgebiete Transdanubiens zu liegen. Der Masterplan aus dem Jahr 1993 stammt von Elsa Prochazka, und nach 20 Jahren zeigt sich, dass hier ein urbaner Raum mit Aufenthaltsqualität entstanden ist. Was den meisten Häusern hier dennoch fehlt, ist der Dialog zwischen Haus und Stadt, die subtile Verbindung zwischen öffentlichen und halböffentlichen Zonen. Diese Qualität besaß auch die angeblich so vorbildliche Blockrandbebauung der Gründerzeit nicht oder nur dort, wo sie aufgrund bestehender älterer Bauten dazu gezwungen war. Gerade hier läge aber – wie das Haus von Artec beweist – das Potenzial der heutigen Stadterweiterung.

Der Genossenschaft „Neues Leben“ sind diese Qualitäten offenbar ein besonderes Anliegen. Auf dem Areal des ehemaligen Nordbahnhofs errichtet sie gerade drei Wohnhäuser auf einer quadratischen Parzelle, geplant von den Architekten Sergison und Bates aus London, von Ballmoos Krucker aus Zürich und Werner Neuwirth. Drei Häuser im Dialog, eine fein justierte Mitte, mehr braucht es nicht. Im stadträumlichen Elendsviertel, zu dem der Nordbahnhof leider geworden ist, sind diese Häuser zumindest ein Lichtblick. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2013)

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