Ein böses Problem

Ein kooperatives Verfahren, wie es sein sollte: Alle haben dazugelernt, am Ende steht ein Kompromiss, aber kein fauler. Über den aktuellen Stand in der Sache Otto-Wagner-Spital, Ostareal.

Gute Planer unterscheiden zwei grundsätzlich verschiedene Klassen von Problemen. Auf der einen Seite jene, bei denen die Aufgabenstellung klar definiert und der Lösungsweg weitgehend vorgezeichnet ist. Solche Probleme mögen komplex und knifflig sein, aber man weiß im Prinzip, wie die Lösung aussehen soll und wann man sie erreicht hat. Auf der anderen Seite gibt es Probleme, die sich einer klaren Definition entziehen, viele Lösungswege offenlassen, und bei denen sich die eigentliche Aufgabenstellung oft erst dann klärt, wenn man schon viele Schritte gegangen ist. Im schlimmsten Fall weiß man dann zwar im Nachhinein, was die richtige Lösung gewesen wäre, kann aber nicht mehr an den Start zurück.

Der Planungstheoretiker Horst Rittel hat diese zwei Klassen als „zahme“ und „bösartige“ Probleme bezeichnet und postuliert, dass die meisten Aufgaben der Stadtplanung zur Klasse der bösartigen Probleme zählen. Es ist kein Zufall, dass sein mit Melvin Webber an der Universität Berkeley verfasster Text über „Dilemmas in a General Theory of Planning“ 1973 erschienen ist. Die Stadtplanung dieser Zeit war von der Idee einer rationalen Planung getragen: Ist-Analyse, Zieldefinition und Festlegung der nötigen Schritte von A nach B. Für Technokraten ist jedes Problem „zahm“: Sie fühlen sich im Besitz der Hoheit über die nötigen Mittel und über die Zieldefinition, natürlich immer zum Besten der Betroffenen. Genau diese Hoheit wurde den Technokraten aber seit den späten 1960er-Jahren von den Betroffenen streitig gemacht. Die Politik – bis dahin natürliche Schutzmacht der Technokratie – knickte unter dem Druck der Medien ein, die rasch erkannten, welche Machtposition sie sich durch die Unterstützung und Steuerung von Bürgerinitiativen erobern konnten.

Ein Lehrstück für diese Entwicklung ist die Geschichte der „Steinhofgründe“, einer Erweiterungsfläche für die „Heil- und Pflegeanstalt am Steinhof“, zur Zeit ihrer Errichtung 1907 mit über 2000 Betten eines der größten Spitäler der Welt. Die „Steinhofgründe“ nicht für die Erweiterung des Spitals zu nutzen, sondern als Wohngebiet in bester Grünlage, war naheliegend, gab es doch bereits eine entsprechende Flächenwidmung. Als die Stadt Wien Ende der 1970er-Jahre beschloss, dieses Potenzial zu realisieren und hier 900 Gemeindewohnungen zu errichten, gelang es einer Bürgerinitiative, einen Sturm der Entrüstung gegen die Verbauung auszulösen, der 1981 zu einer Volksbefragung führte. Die Technokraten des Magistrats mussten fassungslos zur Kenntnis nehmen, dass zwar 83 Prozent der Befragten für den sozialen Wohnbau an sich stimmten, aber 53 Prozent die Errichtung solcher Wohnungen auf den Steinhofgründen ablehnten, einem Areal, das davor nicht öffentlich zugänglich war, und dessen Existenz vor der Volksbefragung in der Öffentlichkeit praktisch unbekannt war.

Heute hat sich der Begriff „Steinhofgründe“ so sehr ins kollektive Bewusstsein eingeprägt, dass auch ein aktuelles Projekt in den Medien gern unter diesem Namen geführt wird. Es handelt sich dabei allerdings um das östlich gelegene Wirtschaftsareal der heute auf Otto-Wagner-Spital umbenannten Anlage. Hier wollte die Stadt Wien über den Bauträger Gesiba im Jahr 2012 rund 570 Wohnungen errichten, nach einem Plan von Albert Wimmer unschön eingeklemmt zwischen die bestehenden Pavillons, zum Teil auf Grünflächen, die jeder sensible Planer auch dann freihalten würde, wenn sie nicht auf Otto Wagner zurückgehen. Diese rücksichtslose Verdichtung hatte freilich Gründe: Über den Verkauf der Grundstücke sollte ein Beitrag zur Finanzierung des Wiener Krankenanstaltenverbunds, des Eigentümers des Spitals, geleistet werden. Auch diesmal erhob sich ein Sturm der Entrüstung, zuerst von Anrainern, dann von Kunsthistorikern und schließlich von Architekten. Besonders „bösartig“ wurde das Problem, weil sogar die Interessen der Gegner höchst unterschiedlich waren: Teile der Bürgerinitiative wandten sich gegen jede Bebauung, andere, darunter auch die meisten Architekten, sahen Potenzial für eine sinnvolle Verdichtung. Als die Medien das Thema genüsslich aufzukochen begannen, zog der Bürgermeister die Notbremse und verordnete dem Projekt eine Nachdenkpause.

Im Unterschied zu 1981 hat die Stadt gelernt, dass Probleme dieser Art sich besser durch einen Abgleich von Interessen im Dialog lösen lassen als durch eine Volksbefragung. In einem ersten Mediationsverfahren wurden 2012 die Zielkonflikte erfasst, unter dem Vorsitz von Adolf Krischanitz wurde ein Expertengremium eingesetzt, das im April 2013 eine Empfehlung an die Stadtregierung abgab: keine Neubauten auf den Grünflächen zwischen Haupt- und Ostareal; kein Verkauf der Grundstücke, sondern Vergabe im Baurecht auf Basis genauer Gestaltungsrichtlinien; Entwicklung von Nutzungsszenarien für das Gesamtareal und ehestmögliche Gründung einer entsprechenden Betriebsgesellschaft; Definition eines Parkpflegewerks für das Gesamtareal; Durchführung eines kooperativen Testplanungsverfahrens für das Ostareal unter Einbindung aller Beteiligten.

Dieses Verfahren wurde im Sommer 2013begonnen und das Ergebnis letzte Woche der Öffentlichkeit vorgestellt. Unter dem Vorsitz von Christoph Luchsinger entwickelten sechs Architektenteams unter Einbeziehung von Mitgliedern aus dem Mediations- und Expertenverfahren ein Bebauungskonzept, das zehn quadratische Baufelder vorsieht, die präzise in den Bestand eingepasst sind. Ein elftes, längliches Baufeld markiert den Abschluss nach Norden. Diese Felder dürfen viergeschoßig und zu rund 60 Prozent überbaut werden, wobei an jede der vier Seiten der Feldumgrenzung angebaut werden muss. Als Fassadenmaterial sind, wie in vielen der Bestandsbauten, Sichtziegel vorgeschrieben. Die sechs Planungsteams – Hermann Czech, Jabornegg & Pálffy, königlarch, Werner Neuwirth, Pool und PPAG – haben mit ihren Entwürfen bewiesen, dass diese Vorgaben viel individuellen Spielraum lassen, aber trotzdem ein stimmiges Gesamtbild erzeugen. 160 vermietbare Einheiten lassen sich so realisieren, weitere 100 durch Sanierung des Bestands. Ein Viertel davon soll von der Gesiba an soziale Einrichtungen für betreutes Wohnen vergeben werden.

Maria Vassilakou und Michael Häupl haben sich inzwischen zu diesem Projekt bekannt und seine Umsetzung ab 2014 garantiert. Dass sie die politische Verantwortung übernommen und nicht an die Boulevardmedien delegiert haben, verdient Respekt. Jetzt geht es um die „Zähmung“ des nächsten Problems: für das Kerngebiet des Spitals muss eine sinnvolle Nachnutzung gefunden werden. Nachverdichtung ist dort ausgeschlossen, umso mehr ist Kreativität im Umgang mit dem Bestand gefragt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2013)

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