Der große Potlatch

Ab und zu träumt man sogar in Wien davon, die Stadt neu zu erfinden. Bei Tag sieht dann alles etwas anders aus: der Wettbewerb für das neue Forumgebäude.

Architekturwettbewerbe gleichen der rituellen Praxis des indianischen Potlatch, bei dem Häuptlinge ihr Vermögen und das ihrer Sippe großzügig verschenkten. In den indianischen Gesellschaften verhinderte diese Praxis die Akkumulation von Reichtum in den Händen weniger, weshalb sie auch bald von den europäischen Einwanderern als unzivilisiert verboten wurde.

Architekten verschenken bei Wettbewerben aber bis heute gerne ein kleines Vermögen: 145 Einreichungen gab es kürzlich beim Wettbewerb für den Neubau eines Bürohauses hinter dem Wiener Rathaus. Das entspricht einem Aufwand von zwei Millionen Euro an Planungsleistung, der eine Aufwandsentschädigung von je 15.000 Euro für jene acht Teilnehmer gegenüberstand, die ihre Projekte in einer zweiten Stufe weiterentwickeln durften.

Warum lassen sich Architekten auf dieses Spiel ein? Akquisition alleine kann es nicht sein. Dafür sind die Chancen auf einen Auftrag zu klein, zumindest dann, wenn sich die Anzahl der Teilnehmer aufgrund einer interessanten Aufgabenstellung im dreistelligen Bereich bewegen wird. Und interessant war diese Aufgabenstellung tatsächlich. Hier befindet sich ein Amtshaus der Stadt Wien, Anfang der 1980er-Jahre von Harry Glück geplant. Mit seinen Spiegelfassaden und Natursteinverkleidungen ist es ein typisches Produkt der Spätmoderne, das seine Nachbarn deutlich überragt. Mit dem Straßenraum ging Glück auf zeittypische Art ambivalent um: Einerseits verwandelte er das Stück Rathausstraße, an die das Haus angrenzt, in eine viel zu kleine und isolierte Fußgängerzone, andererseits setzte er die Abfahrt zur Tiefgarage mitten in die nächste Quergasse, wo sie den Straßenraum blockiert.

An dieser Situation wird auch der Neubau nichts ändern, da die Einfahrt erhalten bleibt. Das bestehende Haus wird abgerissen, da es so genau auf die Bedürfnisse eines Rechenzentrums der 1980er-Jahre zugeschnitten ist, dass eine Umnutzung selbst bei hohem Aufwand kein wirklich brauchbares Ergebnis gebracht hätte.

Eine solche mittelgroße Aufgabe an einem prominenten Standort zieht an sich schon viele Teilnehmer an. Die Ausschreibung klang aber zusätzlich verheißungsvoll. Die Architekten waren eingeladen, sich über die „morphologisch-typologischen Regelsysteme“ des Bestands hinwegzusetzen. Eine „radikale Neuinterpretation des Standorts“ wäre möglich, wenn „außergewöhnliche Architektur- und Freiraumqualitäten“ für die Öffentlichkeit geschaffen würden. Eine solche „Interpretationsstrategie“ dürfe aber„kein kurioser Einzelfall“ sein, sondern müsse sich als „Komponente einer komplexen stadtstrukturellen Entwicklung“ legitimieren. Bei entsprechender Höhenentwicklung könnten solche signifikanten Sonderbauten ein neues Ensemble innerhalb des ehemaligen Glacis erzeugen.

Die Zitate stammen aus einer den Wettbewerbsunterlagen beigelegten Studie von Erich Raith und Nonconform, in der Raith den Standort als Teil der von ihm so genannten Glacis-Zone interpretiert. Das Viertel um das Rathaus bildet darin einen besonderen Abschnitt: Es ist in Baublöcke geteilt, die den drei Monumentalbauten Parlament, Rathaus und Universität einen Rahmen geben. An der vom Zentrum abgewandten Seite verschneidet sich dieser Blockraster mit den Vorstädten, wobei die gegenständliche Parzelle immer schon eine Sonderrolle einnahm, da sie nicht mehr genug Tiefe für einen normalen Baublock mit Innenhof aufweist. Im 19. Jahrhundert war diese Parzelle folgerichtig mit einer Sondernutzung belegt, einer kleinen Markthalle für die Nahversorgung.

1950 wurde die Halle von der Stadt Wien in ein Kino mit 1200 Plätzen umgebaut, das unter dem Namen Forumkino geführt wurde und ein wichtiger öffentlicher Ort war. 1974 wurde das Kino, das sich nicht mehr an neue Anforderungen anpassen ließ, abgerissen. Laut Ausschreibung waren an diesem Ort unterschiedliche städtebauliche Optionen möglich, die von der Anpassung an den Bestand bis zur oben erwähnten „radikalen Neuinterpretation“ reichten. Die teilnehmenden Architekten sollten also ihrer Fantasie freien Lauf lassen, um eine städtebauliche Lösung zu entwickeln. Jede Form und Höhe ist möglich, nur „qualitätvoll“ muss das Ergebnis sein.

Und da beginnt das eigentliche Problem. Ist ein Objektwettbewerb wirklich geeignet, eine solche Frage zu lösen? War nicht von vornherein klar, dass an dieser Stelle am Rand des Weltkulturerbes nur ein Bauherr mit Kamikaze-Neigung ein Hochhaus-Projekt angehen würde? Im konkreten Fall war der Bauherr die Wien-Holding, die auch recht unmissverständlich erklärte, dass sie keinen Ärger mit den Hütern des Welterbes haben und möglichst rasch und ohne große Umwidmungen ins Bauen kommen möchte. Hätte es nicht vorab eine klare Deklaration der Wiener Stadtplanung gebraucht, ob sie tatsächlich in diesem Teil der Altstadt eine neue Stadtsilhouette schaffen möchte, und wenn ja, welche?

Die Einladung zum Träumen wurde von den 145 Architekten zu einem erstaunlich großen Teil angenommen. Türme und Scheiben allerlei Zuschnitts wurden eingereicht. Alle mussten an der Vorgabe scheitern, Teil eines Glacis-Ensembles von Hochpunkten bilden zu wollen, dessen andere Elemente sie nicht kennen konnten. Drei turmartige Projekte wurden von der Jury in die zweite Stufe zum Weiterträumen mitgenommen. Dass sie damit an einem großen Potlatch teilnahmen, muss den Projektverfassern spätestens bei der Lektüre des Juryprotokolls aufgefallen sein, in dem die Ablehnung eines Turmprojekts in schönstem Jurydeutsch so begründet wird: „Die Durchsetzbarkeit eines derartigen Projektes würde mit großen Schwierigkeiten verbunden sein, die einen mittelfristigen immobilienwirtschaftlichen Erfolg an dieser Stelle womöglich verunmöglichen könnten.“

In die engere Wahl kamen schließlich zwei Projekte, die unterschiedlicher nicht sein können. Beide halten sich grundsätzlich an den Blockrand. Traupmann und Pichler entwickelten eine geometrisch hochkomplexe, aber zugleich präzise Figur, die für einen städtischen Block eine Innovation darstellt und in der Beziehung zu den Freiräumen eine interessante Lösung findet, da sich der Baukörper leicht vom Boden wegschwingt. Passanten schlüpfen über ein niedriges Erdgeschoß quasi unter das Gebäude, wo sie ein hohes Atrium erwartet.

Gewonnen hat eine Kooperation zwischen Wiener und Berliner Büros, Stadler Prenn Architekten, Schuberth und Schuberth zt-kg und Ostertag Architects. Das Projekt variiert ein Motiv, mit dem David Chipperfield die Rückseite des Kaufhaus Tyrol in Innsbruck gestaltet hat. Bei den Arkaden haben die Architekten offenbar kein Vorbild gefunden. So banal wie dargestellt werden sie am Ende hoffentlich nicht aussehen.

Was bleibt also vom ganzen Aufwand? Man träumt, wacht auf – und ist in Berlin. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2014)

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