Furchtlos in Zürich

Architektur, die an nichts erinnern und nichts erzählen will. Adolf Krischnitz' Projekt für die Zentrale der Zurich-Versicherung besticht durch Gelassenheit.

Die Stadt der Zukunft muss in Europa in der Stadt der Vergangenheit errichtet werden. Selbst wenn wir in den nächsten 200 Jahren alle Gebäude – mit der Ausnahme einiger weniger Denkmäler – durch Neubauten ersetzen, geht das nur in so kleinen Etappen, dass die alten Strukturen auf die eine oder andere Art in den neuen weiterleben werden. Umso wichtiger sind übergeordnete Ziele, die helfen, auch im Rahmen dieser kontinuierlichen Erneuerung zu einer substanziellen Steigerung der Qualität zu gelangen.

Die Bewohner der Stadt Zürich haben sich in einer Volksabstimmung im Jahr 2008 ein solches Ziel gesetzt: die 2000-Watt-Gesellschaft. Das bedeutet, dass jeder Einwohner der Stadt mittelfristig mit einem Energiebedarf auskommen soll, der einer stetigen Leistung von 2000 Watt entspricht. Derzeit beträgt dieser Wert das Dreifache. Die reiche Schweiz könnte sich einen Verbrauch auf diesem Niveau wohl noch ein paar Jahrhunderte leisten. Wozu also sparen? Hinter der 2000-Watt-Gesellschaft steht nicht die Idee, in den Alpen eine energieautarke Insel der Seligen einzurichten, sondern die Absicht, ein Vorbild für die globale Entwicklung zu setzen. Wenn alle aufstrebenden Schwellenländer das Anspruchsniveau der Industrieländer entwickeln, müssen rasch Wege gefunden werden, dieses Niveau mit geringerem Ressourcenverbrauch zu erreichen.

Mit dem Bauen hat dieses Ziel insofern zu tun, als die Errichtung und der Betrieb von Gebäuden in Mitteleuropa bis zu 50 Prozent des gesamten Energieverbrauchs beanspruchen. Aber hat es auch etwas mit Architektur zu tun? Geht es hier nicht primär um technische Fragen, von den Dämmstoffstärken bis zur Gebäudesteuerung? Sollte man dieses Feld nicht besser den Ingenieuren überlassen und von den Architekten nur noch die Gestaltung schöner Hüllen für die effizienten Green-Buildings der Zukunft verlangen? Es sieht nicht danach aus. Gerade weil Bauen heute so gut wie immer Bauen im Bestand bedeutet, sind architektonische Entscheidungen gefordert, die sich nicht auf Technik plus Hülle reduzieren lassen.

Als die Zurich Versicherung – ein alteingesessener Schweizer Konzern, der seinen Umlaut längst der Expansion zu einer der größten Versicherungsgesellschaften der Welt geopfert hat – die Neugestaltung ihres Hauptquartiers am Zürichsee in Angriff nahm, ging es vorerst um die Frage, welche Teile des Bestands überhaupt zu erhalten waren. Dass der denkmalgeschützte Stammsitz, ein historistischer Prachtbau am Mythenquai, dazu gehörte, war klar, aber für das anschließende Konglomerat aus unterschiedlichen Stilepochen fiel diese Entscheidung schwer.

Alles hätte sich sanieren lassen. Dem Bauherrn ging es aber um eine Qualitätssteigerung nicht nur im thermischen Sinn. In der Ausschreibung zum Wettbewerb, den er für die Sanierung auslobte, stand bei den Beurteilungskriterien der Bereich „Gesellschaft“an erster Stelle, gefolgt von „Wirtschaft“ und „Umwelt“. Als gesellschaftliche relevante Kriterien waren darin die Qualität der Gestaltung der Bauten und ihrer Beziehung zur Stadt an erster Stelle genannt. Dazu kamen ergänzend die Umsetzung der Unternehmenskultur, die Zugänglichkeit für alle sowie die Schaffung von ausreichenden und hochwertigen „Kontemplationsflächen“.

Kontemplation im Sinne von Achtsamkeit ist nicht nur für einen Versicherungskonzern eine wertvolle Übung. Für das hehre Ziel einer 2000-Watt-Gesellschaft dürfte sie überhaupt die Voraussetzung sein. Es wäre naiv zu glauben, dass die Reduktion des Energieverbrauchs auf ein Drittel nur eine technische Frage und nicht eine der Lebensweise ist. In diesem Kontext darf man Ludwig Wittgensteins Bemerkung, die Arbeit in der Architektur sei wie die Philosophie Arbeit „an einem selbst“ ins Kollektive übertragen: Zu welchen Formen gelangt eine Gesellschaft, wenn sie im Medium der Architektur über ihre aktuelle Situation nachdenkt?

Jeder anspruchsvolle Architekturwettbewerb mit guter Ausschreibung und kompetenter Jury ist ein Labor für die Beantwortung dieser Frage. Im Falle des Züricher Wettbewerbs haben 14 internationale Architektenteams in diesem Labor mitgewirkt. Gewonnen hat ein Projekt des Wiener Architekten Adolf Krischanitz, in dem laut Jury alte und neue Teile so eng ineinandergreifen, dass ein Betrachter ohne Vorkenntnis sie im Lageplan nicht unterscheiden könnte. Die historischen Bauten bleiben erhalten und werden teilweise von Zubauten befreit. Als neues Volumen wird ein im Grundriss u-förmiges Gebäude eingesetzt. Seine Trakte sind unterschiedlich breit und können so perfekt auf den Bestand reagieren: Der schmalste Trakt endet im Innenhof in einem verglasten Kopfbau, der vom Mythenquai aus in der Lücke zwischen zwei Bestandsbauten als Turm zur Wirkung kommt. Der neue Haupteingang liegt auf der dem See abgewandten Seite des Blocks, exakt auf der Achse eines niedrigen Bestandsgebäudes, das quer zum Prachtbau in die Tiefe führt.

Das Bemerkenswerte an diesem Projekt ist seine Gelassenheit. Es will an nichts erinnern, will nichts erzählen. Es spinnt Motive früherer Bauten von Krischanitz weiter, etwa die gefaltete Glasfassade, die sich in ähnlicher Form in seinem Laborgebäude für Novartis in Basel findet. Nur ist die Geometrie hier komplexer, horizontal und vertikal gefaltet. So statisch es auf den ersten Blick wirkt, so dynamisch ist das Projekt im Detail. Die diversen Trakttiefen und Hofsituationen erzeugen unterschiedliche, aber immer hochwertige Arbeitsplätze. Die Geschoßhöhen variieren, was zur Spannung der Fassade ebenso beiträgt wie das schrittweise Zurückversetzen ihrer vertikalen Steingewände: Was in den unteren Geschoßen als vertikale Lisene beginnt, endet oben in einem Bandfenster. Die Jury attestiert Krischanitz zu Recht, er hätte die unterschiedlichen Gebäudehüllen „konsequent, ja furchtlos entwickelt“.

Furchtlos ist hier ein treffender Begriff. Krischanitz Architektur war nie gefällig. Sie reagiert auf das, was der Fall ist. Sie vermeidet jede Anbiederung, an den menschlichen Maßstab ebenso wie an die unmittelbar aktuellen Bedürfnisse. Dafür lässt sie Platz für Entwicklung, fürs Reinwachsen und fürs Weiterbauen. Architektur, hat Adolf Krischanitz einmal geschrieben, ist der Unterschied zwischen Architektur. Über diesen Zen-buddhistischen Satz kann man lange nachdenken. Im Getriebe der Sachzwänge hilft er, Gelassenheit zu bewahren. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2014)

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