Damals schrieb Nationale Eigentümlichkeiten

Wien, 2. Juli 1864. Bei der Leichenfeier auf dem Pariser Bahnhofe wurde von einem Mitgliede des Instituts dem verstorbenen Giacomo Meyerbeer nachgerühmt, daß er die deutsche Gründlichkeit, die italienische Anmuth und die französische Eleganz in seiner Musik vereint habe. Wenngleich dieses Lob etwas verdächtig klingt, da der, welcher in seiner Brust die charakterlichen Eigenthümlichkeiten dreier Nationen zusammenschmelzen wollte, schwerlich einen eigenen Charakter haben könnte, so ist es in mancher Hinsicht begründet, und der Gedanke, den Centralpunkt jener drei Schulen in seiner Person zu bilden, hat wol in der That Meyerbeer als eine Art von Ideal vorgeschwebt.

Es besteht ja das Eigenthümliche jener Gesellschaft, welcher er zugehörte, darin, daß ihre Physiognomie in allen Ländern denselben Stereotyp glattenAusdruck zeigt. Meyerbeer konnte daher heute den deutschen, morgen den italienischen, übermorgen den französischen Rock anziehen: immer blieb er derselbe, der Sohn des reichen Banquiers Beer von Berlin. Und dann winkte ihm der humoristische Rossini, der schon ein ganzes Lorbeergebüsch auf seinem Kopfe trug. Meyerbeer war nicht gegen den Lorbeer; er hatte in München mit einer deutschen Oper, die Tochter Jephta's, dann in Wien mit einer andern, Abimelech oder die beiden Kaliphen, debutirt, ohne daß beide Werke ihm auch nur ein kleines Kränzchen vom Baume des Apoll zugeworfen hätten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2014)

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