Nichts ist egal

Seine Bauten waren ihrer Zeit Jahrzehnte voraus. So ist es keine Überraschung, dass sie heute dringend saniert werden müssen. Wien sollte das Andenken an Helmut Richter ehren, indem es seine Bauten weitersprechen lässt– die Stadt hat nicht viele Räume dieser Qualität zu bieten.

Ueber Architektur zu sprechen ist Helmut Richter nie leicht gefallen. Ein allgemeines Gespräch zum Thema „Architektur“ hielt er für sinnlos, weil es keine ästhetischen Argumente gäbe, sondern nur ästhetische Postulate. Die würden allerdings nicht vom Himmel und dem Architektengenie in die Hände fallen. Vielmehr sei festzuhalten, dass „die ständige Beschäftigung mit einem Problem, dauernde Anstrengung und der Wille, etwas zu verbessern, neben der Verwendung von klaren Argumenten bei der Kontrolle unserer Handlungen zu dem Resultat führt“.

Es ist symptomatisch, dass Richter „dem Resultat“ kein Adjektiv beistellt, wie man es an dieser Stelle erwarten würde. Sollte es nicht zumindest „korrekt“ sein, besser noch „gelungen“ oder „herausragend“? Das wäre für Richter schon zu viel an Selbstgefälligkeit gewesen. Das Resultat ist, was es ist. Aber im selben Text, der 1984 in der Zeitschrift „UmBau“ erschien, heißt es auch: „Die Methode sei der ständige Zweifel, die Kontrolle, die Korrektur.“ So macht man sich und seiner Umgebung kein leichtes Leben. Aber man gelangt zu außergewöhnlichen Resultaten. Und das ist das Mindeste, das man über Helmut Richters Architektur sagen kann.

Geboren wurde Richter 1941 in Ratten in der Steiermark. „Aufgewachsen bin ich im Wald“, sagte er vor Jahren in einem Interview und legte damit wahrscheinlich eine falsche Fährte: Sein Vater war Bergbauingenieur, und beeinflusst haben ihn weniger die Natur als das industrielle Gerät und die Industriebauten des Kohlebergwerks im Ort. Nach dem Architekturstudium an der TU in Graz ging Richter 1969 in die USA, um an der University of California, Los Angeles, weiterzustudieren. Dem Trend der Zeit entsprechend, belegte er Vorlesungen in System- und Netzwerktheorie und war bis 1971 als Forschungsassistent tätig. Er kehrte nicht direkt nach Österreich zurück, sondern wechselte für vier Jahre als Assistenzprofessor an die École nationale superiéure des beaux-arts in Paris.

Dort freundete sich Richter mit einer internationalen Gruppe von Architekten an, die gerade mit der Planung des Centre Pompidou befasst waren. Zum ersten Mal in der Geschichte Frankreichs hatten an dem Wettbewerb für dieses Projekt auch ausländische Architekten teilnehmen dürfen, und aus fast 700 Einreichungen machte das Team des Engländers Richard Rogers und des Italieners Renzo Piano das Rennen. Das Projekt eines anderen Briten, des 23 Jahre alten William Alsop, kam auf Platz zwei. Richter hoffte, sich in diesem Pariser Umfeld als internationaler Architekt selbstständig machen zu können. Das ging nicht auf, aber der kontinuierliche Austausch mit den Architekten und Ingenieuren der Architekturströmung, die man ab Mitte der 1970er-Jahre als „Hightech“ zu bezeichnen begann, ließ ihn Konstruktion und Material neu denken: nicht als Mittel zum Zweck, sondern als zentrales Medium des architektonischen Schaffens. Unter den österreichischen Architekten gelangte nur Konrad Frey, der zur selben Zeit wie Richter an der TU Graz diplomiert und danach in London bei Arup Associates – den Ingenieuren des Centre Pompidou – gearbeitet hatte, zu einem vergleichbaren Verständnis.

Im Jahr 1977 kehrte Richter nach Wien zurück und gründete gemeinsam mit Heidulf Gerngroß ein eigenes Büro, das sehr rasch auffällig wurde. Während an der TU Wien mit Rob Krier ein wortgewaltiger Vertreter der Postmoderne den Ton angab, legten Gerngroß/Richter Projekte einer zweiten, entspannt wirkenden Moderne vor. Es waren kleine und kleinste Aufgaben: das Einfamilienhaus Königseder in Oberösterreich, das Bad Sares und das Restaurant Kiang in Wien, alle in den Jahren zwischen 1980 und 1985 realisiert. Für viele Studierenden an den Wiener Architekturschulen wurden diese Projekte zu Leitbildern. Sie waren der gebaute Beweis, dass ihre Lehrer unrecht hatten. Die behaupteten nämlich zu dieser Zeit, man müsse einem Projekt ansehen, dass es die Weltgeschichte der Architektur ehrfurchtsvoll zitiert. Die Projekte unter dem Label von Gerngroß/Richter zeigten eine Alternative auf, die völlig im Heute zu Hause war. Wer diesen Weg verfolgte, war aber auch gegen jede Art von Dekonstruktivismus immunisiert. Richters Lieblingsphilosophen waren Wittgenstein und Popper. Er verstand Entwerfen als deduktiven Prozess, dessen Ergebnisse sich im Leben zu bewähren haben, und Bauschäden als Erkenntnisgewinn durch Falsifikation.

Zur Attraktivität der Person Helmut Richters bei der jungen Szene trug wesentlich seine kompromisslose Haltung bei – sie führte aber nicht immer zum Erfolg. Beim Wohnbau auf den Wiener Gräf-und-Stift-Gründen, der als Stahlkonstruktion geplant war, erlebte er eine doppelte Niederlage: Die Ausführung erfolgte in Massivbauweise, und die zahlreichen Grundrissvarianten, die der Entwurf den Nutzern angeboten hätte, wurden auf zwei reduziert. Im Kampf mit der Genossenschaft ließ sich Richter auf keinen Kompromiss ein, bis er den Auftrag verlor. Sein Gegenüber erwartete von einem Haus nicht mehr, als dass es warm, trocken und möglichst billig war. Richters Leidenschaft galt der Präzision bis ins letzte Detail. Richard Manahl von Artec, einer der ersten Mitarbeiter im Büro Gerngroß/Richter, berichtet, er hätte dort vor allem ein Prinzip gelernt: „Nichts ist egal.“ In der Wiener Welt des Durchwurstelns ist das bis heute eine Kampfansage.

Diese Ansage hat Richter seit den frühen 1980er-Jahren auf vielen Wegen in die österreichische Architekturszene getragen. Da wären einerseits die Mitarbeiter in seinem Büro, andererseits die Studierenden, die er zuerst als Lehrbeauftragter an der Angewandten, dann als Gastprofessor in Kassel und schließlich ab 1991 als Nachfolger von Ernst Hiesmayr an der TU Wien unterrichtet hat. In seiner Zeit als Professor betreute Richter rund 750 Diplomarbeiten: eine ganze Architektengeneration.

An der TU etablierte er mit seinen Assistentinnen und Assistenten eine Schule, die aus dem Betrieb herausleuchtete. Zu denen, die ihm auf die eine oder andere Art wesentliche Impulse verdanken, gehören viele, auch einige der besten der heute um die 50-jährigen Architekten in Wien, unter anderem Fasch und Fuchs, Querkraft, Gerner und Gerner, Andreas Treusch, Pichler Traupmann, Berger und Parkkinen, Bulant und Wailzer, Tillner und Willinger.

Diese Architekten verbindet ein Verständnis für Konstruktion und Material, wie es an den beiden Hauptwerken Richters, der Wohnhausanlage in der Brunner Straße und der Hauptschule am Kinkplatz, abzulesen ist. Peter Cook hat diese Architektur als „Hand-Tailored Tech“ bezeichnet. Sie ist exklusive Maßarbeit, im Unterschied zum britischen und französischen Hightech, der auf große Ingenieurbüros und ausführende Firmen mit Stahlbautradition zurückgreifen konnte. Richter und sein Ingenieur, Lothar Heinrich von Vasko und Partner, entwickelten Konstruktionen, die ihrer Zeit 20 Jahre voraus waren. Scheinbar serielle Industrieprodukte, die aber nicht aus der Fabrik, sondern aus der Schlosserei stammen.

Dass diese Bauten heute, nach 20 Jahren, dringend saniert werden müssen, ist keine Überraschung. Sie teilen dieses Schicksal mit dem Centre Pompidou, dessen erste Generalsanierung 20 Jahre nach der Eröffnung begann. Mit heutigen Technologien lassen sich Richters Bauten warm und dicht machen, ohne ihre Qualität zu zerstören. Am 15. Juni ist Helmut Richter nach langer Krankheit verstorben. Wien sollte das Andenken an diesen stillen, fast scheuen Architekten ehren, indem es seine Bauten weitersprechen lässt. Die Stadt hat nicht viele Räume in dieser Qualität zu bieten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2014)

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