So billig kann nicht billig sein

Welche Autorität hat Autorschaft? Nicht lange ist es her, da wurde die Nachtwallfahrtskapelle am Tiroler Locherboden „eines der eindrucksvollsten Zeugnisse sakralen Bauens“ der 1990er genannt. Mittlerweile hat man sie durch einen Zubau verschandelt.

Welche Autorität hat Autorschaft? Wer entscheidet über den Umgang mit sakralen Bauten? Wie beliebig dürfen Bau- und Kunstwerke, Ensembles und Landschaften stümperhaft beeinträchtigt und zerstört werden? Wie gestört ist das Verhältnis zwischen Religion und zeitgenössischer Kunst?

Diese Fragen stellen sich angesichts dessen, was sich im Umfeld der Nachtwallfahrtskapelle Locherboden in Tirol zugetragen hat. Am Fuß der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Wallfahrtskirche steht die vom Architekten Gerold Wiederin gemeinsam mit dem Künstler Helmut Federle gestaltete Kapelle aus dem Jahr 1996. Aus einem von der Tiroler Dorferneuerung betreuten Wettbewerb hervorgehend, wurde sie errichtet, um den traditionellen Nachtwallfahrten einen Rahmen zur Messfeier zu bieten, da die Kirche nicht alle Pilger aufnehmen kann.

Gerold Wiederin wählte den Platz am Fuße einer Felswand nächst dem Pilgerweg. Die Lichtung davor bietet den Wallfahrern Aussicht auf die Kirche auf der Anhöhe. Er wollte keinen Baukörper im engeren Sinn schaffen, sondern „eine präzise geometrische Struktur, die die Abfolge der Sakralbauten am Locherboden in logischer Weise fortsetzt und auf die temporäre Nutzung hinweist“. Es ist ein schlichter Pavillon aus ortgegossenem Beton. Im Zentrum der Rückwand befindet sich eine aus farbigen Glasbrocken und einem Eisengitter in Form eines Geästs gebildete Arbeit des Künstlers Helmut Federle. Ein Gitter mit dem gleichen Astmotiv setzte Federle vor die Öffnung der Grotte in der seitlich der Kapelle liegenden Felswand. Sehr behutsam haben Wiederin und Federle topografische Setzung, Detaillierung und Symbolik in engem Dialog entwickelt, sodass ein Ort von großer Faszination und Spiritualität entstand.

„In der steil zum Baukörper abfallenden Felswand entdeckt man ein Loch – ein Zugang zu einer Höhle oder zu einem unterirdischen Stollen? Der eckige Baukörper steht vor diesem Höhleneingang, als wäre er gerade aus dem Bauch der Erde ausgestoßen worden und könnte auch jederzeit im selben Erdschlund wieder verschwinden. Die räumliche Nähe von Pavillon und Höhle erzeugt eine Spannung. Etwas Geheimnisvolles, etwas Unerklärliches geht von diesem Ort aus“, schrieben die Basler Architekten Herzog & de Meuron in einer Publikation über die Nachtwallfahrtskapelle.

Wer heute zum Locherboden fährt, wird all dies nur noch rudimentär nachvollziehen können. Vor dem Grotteneingang macht sich nun ein Anbau in Form einer plumpen Karikatur von Wiederins Pavillon breit. Helmut Federles Gitter ist verschwunden, die Zwiesprache zwischen Kapelle und Grotte brutal unterbrochen, die magische Kraft des Ortes vernichtet.

„Die Kapelle ist eines der eindrucksvollsten Zeugnisse sakralen Bauens der vergangenen Jahre“, schrieb die „Neue Zürcher Zeitung“ über dieses Kleinod sakraler Baukunst im Nachruf auf den viel zu jung und viel zu früh verstorbenen Architekten Gerold Wiederin (1961–2006). Der Architekt kann sich nicht mehr gegen die Verschandelung seiner Arbeit wehren. Das müssen nun andere tun. Der Künstler Helmut Federle ist entsetzt. Schließlich haben die beiden Autoren der Kapelle die Höhle bewusst so belassen, als Metapher für Geburt und Armut im Gegensatz zum „Tempel“, der präzise gestalteten, frei stehenden Kapelle. „Man kann doch die Inhaltlichkeit nicht willkürlich zerstören“, sagt Federle, den am meisten die Pseudo-Analogie des neuen Vorbaus zur Nachtwallfahrtskapelle stört. Abgesehen davon, dass der Zubau die harmonische Setzung des ganzen Ensembles stört, mangelt es ihm konstruktiv und im Detail an gestalterischer Souveränität. Hätte es keine andere Lösung gegeben?

Der Zubau soll im Wesentlichen den Zweck eines Unterstandes für den Chor bei Regenwetter erfüllen, ist vom Pfarrer zu erfahren. Diese „der Nachtwallfahrtskapelle angepasste“ Lösung habe das Denkmalamt präferiert. Der zuständige Referent im Denkmalamt war vor Redaktionsschluss urlaubsbedingt nicht erreichbar. Abgesehen davon, dass der Zubau grundsätzlich infrage zu stellen ist, wurde hier ganz und gar nichts angepasst. Wiederin hat jede Fuge, jede Kante präzise überlegt, die auf den vier Stützen ruhende Dachplatte mit einander kreuzenden Rippen ausgesteift, in die an der Untersicht Lichtbänder eingelegt sind und die in der Draufsicht eine schöne Fassade bilden. Beim Grottenzubau hingegen setzte man mit Stützen dort, wo es sich gerade ausgeht, mit gewöhnlichen Deckeneinbauleuchten und einem Kiesdach auf Billigästhetik. Neben einer Marienstatue, die Architekt und Künstler an diesem Ort immer für richtig gehalten haben, befindet sich in der Grotte nun auch eine Kreuzigungsgruppe. Ursprünglich stand sie auf dem Hügel. Irgendwann wurde der Christuskorpus gestohlen, die beiden Schächer verwahrte man auf dem Dachboden des Pfarrhofes, berichtet der Pfarrer, der schon länger den Wunsch hegte, die Gruppe wieder aufzustellen. Nachdem 2008 ein neuer Christus geschnitzt und alle Figuren neu gefasst worden waren, platzierte man die Kreuzigungsgruppe kurzerhand in der Grotte.

Zu ihrer Sicherung wurde ein neues, banales Gitter angebracht. Ausstaffiert mit Kniebänken, einem Opferkerzenständer und einem Opferstock, konkurriert nun der Vorbau mit der Nachtwallfahrtkapelle. Der schlichten Volksfrömmigkeit kommt dieses Setting wahrscheinlich entgegen. Wohl besser als die Nachtwallfahrtskapelle, über die bereits zu Anfang ihrer Existenz ein Ortsansässiger gemeint haben soll, dass man die „Faust im Sack ballt“, wenn man sie sieht. Nun hat man dem solchem Geschmacksempfinden nachgegeben. Wirklich empörend ist, dass seitens kunsthistorisch, architektonisch und liturgisch gebildeter Personen aus Diözese oder Denkmalamt nicht rechtzeitig vehement Position gegen diesen Dilettantismus eingenommen wurde. Kunst und Architektur müssen vermittelt werden – durch gute Argumente und besser noch durch gute Anschauungsbeispiele. Das ist langwierig und mühsam, macht sich aber irgendwann daran bemerkbar, wie einzelne Gebäude, Ortschaften und ganze Landstriche aussehen.

Aus dem bischöflichen Bauamt in Innsbruck ist zu erfahren, dass es in den dortigen Akten wohl ein Projekt für die Grotte am Locherboden gebe, dies allerdings völlig anders konzipiert gewesen sei, als die nun umgesetzte Lösung. Dass bereits etwas gebaut wurde und wie es aussieht, war dem Bauamt bis zum Zeitpunkt unserer Anfrage unbekannt.

Wahrscheinlich haben es die Verantwortlichen gut gemeint. Gut gemacht ist anders. Die Situation am Locherboden muss jedenfalls rückgebaut und neu bedacht werden. Spätestens jetzt ist es an der Zeit, mit Helmut Federle in Kontakt zu treten und nach einer Lösung zu suchen, die dem künstlerischen Werk ebenso gerecht wird wie den offensichtlich vorhandenen praktischen Bedürfnissen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)

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