Der Kunst eine Ruine!

Sparsame Eingriffe, funktional, reduziert und ohne platte Historisierung: wie Helmut Reinisch aus einem teils baufälligen Schloss in der Oststeiermark eine Drehscheibe für die Kunst machte.

Ungewöhnliche Vorgaben führen zu unkonventionellen Resultaten. Im Umkehrschluss zeigen Menschen, die außergewöhnliche Ergebnisse anstreben, eine Affinität zu unkonventionellen Vorgaben, mehr noch, sie scheinen die Herausforderung unüblicher, oft erschwerter Bedingungen sogar zu lieben. Einer dieser, die unorthodox denken und handeln, weil sie sich gerne selbst überraschen, ist Helmut Reinisch. Der kunstsinnige Grazer beschloss vor nunmehr zehn Jahren, sein exklusives Teppichgeschäft am ersten Platz der Stadt zu schließen, um ein neues Projekt zu starten. Er hatte einen Platz gefunden, der ihm geeignet schien, als Ausstellungsort und Drehscheibe für Kunst in größerer Dimension belebt zu werden. Schon das Geschäft wurde als Galerie geführt, und die seltenen, vorwiegend aus Nordafrika stammenden Teppichunikate wurden immer wieder moderner Malerei und Plastik gegenübergestellt. Nun kaufte Reinisch vom Land Steiermark um eine symbolische Summe ein „Eigentum auf Zeit“ und erwarb damit für 75 Jahre ein Nutzungs- und Baurecht für einen unbewohnten, teils baufälligen Herrschaftsbesitz in der Oststeiermark.

Schloss Kalsdorf bei Ilz, dessen ältester Teil um 1530 entstanden sein dürfte, ist ein mächtiger Vierkanter, der einen arkadengesäumten Innenhof umschließt. 1945 brannte ein Drittel des Gebäudes aus. Weder die desolate Substanz noch die Größe des Bauwerks mit 101 Zimmern schreckte Reinisch ab. Im Gegenteil, er sah gerade darin die Chance, sein sowohl inhaltlich wie auch baulich unkonventionelles Modell der Aneignung umsetzen zu können.

Sein Plan war, andere kunstinteressierte Menschen als Miteigentümer am großen Raumangebot teilhaben zu lassen. Von ihnen erhoffte er sich stärkere Identifikation und mehr Engagement für die Belebung und Erhaltung des Schlosses als bei Mietern. Käufer wurden gesucht, die attraktiv fanden, zusätzlich zu individuellem Wohn- oder Arbeitsraum allgemeine adaptierte Flächen von bis zu 1500 Quadratmetern bespielen zu können, Varianten von Selbstausbau bis zum Kauf von fertigen Wohneinheiten wurden ausgedacht. Doch weil Reinisch, der Architektur studiert hatte, ohne das Studium zu beenden, gerne selbst zupackt und der Typ des Machers ist, der nicht lange zuwartet und sich mit Theorien aufhält, entstanden nach seinen Plänen und unter seiner Aufsicht die meisten der heute neun Wohneinheiten. Jede dieser Wohnungen, die mit Mitteln der Wohnbauförderung errichtet wurden, ist individuell gestaltet, weil der Bauherr auf den unterschiedlichen Qualitäten des Raumangebots aufbaut und deren Proportionen nach Möglichkeit nicht ändert. Seine Eingriffe sind sparsam gesetzt, immer der Funktionalität verpflichtet und reduziert in Materialwahl und Form. In der Turmwohnung lässt Reinisch das dominierende Gebälk sichtbar, im westlichen Längstrakt arbeitet er mit der vorhandenen Raumhöhe des klassischen Altbaus von viereinhalb Metern.

Für seine eigene Wohnung wählt er sich am südlichen Ende des ausgebrannten Osttrakts ein zwei Geschoß hohes Raumvolumen mit freiem Blick in den Dachstuhl. Er zieht in 6,10 Meter Höhe, knapp über den ehemaligen Dachluken der Außenwand, eine Decke in Sichtbeton ein und geht auf altes Wissen um harmonische Längenverhältnisse, etwa den „Goldenen Schnitt“, ein.

Die Überzeugung des kultivierten Laien Reinisch, dass mit Materialien, Formen und der Technologie der heutigen Zeit gestaltet werden soll, wenn etwas nicht oder nicht mehr vorhanden ist, deckt sich mit der eines modernen Denkmalschutzes. Eine auch dem Zeitgenössischen verpflichtete Haltung ist zwar heute nicht mehr ganz so selten wie noch vor wenigen Jahren – selbstverständlich ist sie nicht. Immer noch wird über rein konservierende Eingriffe hinaus historisierend gedacht, wird versucht, notwendige Eingriffe in alte Substanz zu verbergen, werden alte Türen aufwendig nachgebaut, wird krampfhaft nach Originalfarben gesucht. Vergessen wird dabei, dass neue Einflüsse, Moden oder Katastrophen historischen Bauwerken immer Erneuerungsbedarf gebracht und sie verändert haben.

Welch Fülle in der Vergänglichkeit

Im Schloss Kalsdorf wird eine klare Trennlinie zwischen Alt und Neu gezogen. Deshalb reicht die Decke der neu eingezogenen Empore im Loft nur punktuell, bei den Auflagern der Deckenträger, an die Außenwände heran, und aus diesem Grund sind Serviceblöcke mit Sanitärzellen, Garderoben oder Küchenschränken frei in den Raum gestellt. Neue Böden halten Abstand zur Wand durch Schlitze, und neue Treppen bleiben unveredelt in geglättetem Beton. In ihrer Einfachheit sind Böden aus Kunstharzguss oder aus Beton, der nur einen glänzenden Anstrich erhält, ein idealer Hintergrund für Gabbehs und andere farbkräftige Teppiche. Selbst Wände sind nicht überall frisch getüncht. Fallweise wurden sie nur abgewaschen und mit einer Kalklasur versehen, was ihre vielen Farbschichten zur Geltung bringt. – Manches belässt Reinisch ganz im vorgefundenen Zustand. Der zu Kriegsende ausgebrannte Osttrakt bleibt ohne Geschoßdecken und Verglasung als leerer Raum erhalten. Welch Fülle in diesem nachhaltig beeindruckenden Symbol der Vergänglichkeit, in dem Fensteröffnungen mit Brettern vernagelt, die Decken nur mehr durch Tramauflager zu erahnen und die ehemaligen Prunkräume in den unterschiedlichsten Tapeten und Wandmalereien angedeutet sind! Diese „Ruine“ lässt sich als ein mit dem Gesamten verschmolzenes Kunstwerk interpretieren, ganz so, wie Reinisch die von befreundeten Künstlern stammenden Werke seiner Sammlung sehen möchte. Herbert Brandl, Erwin Bohatsch, Hubert Schmalix, oder Manfred Erjautz sind Gäste, die ausgestellt wurden und mit einzelnen Werken ständig vertreten sind.

Hartmut Skerbisch, von dem das Lichtschwert bei der Grazer Oper stammt, ist einer der Miteigentümer. Von ihm stammen Idee und Entwurf für den auffälligen Balkon an der Südfassade in Form einer Kugel, die von einem langen Steg durchdrungen wird. Mit einem Durchmesser von 12,74 Metern ist sie die einmillionste Verkleinerung der Erdkugel. Ganz pragmatisch, ohne konzeptuelle Absicht entstanden, gibt es noch einen zweiten „Künstlerbalkon“. Eine Bausünde der 1960er-Jahre, ein hässliches dreiteiliges Fenster, wurde durch einen perspektivisch gebauten Balkon des spanischen Künstlers Tom Carr, in dessen Verkleidung aus Niroblech sich nur die geschichtsträchtige Hauswand spiegelt, ersetzt und damit der schlichten Westfassade ein Akzent gegeben.

Es sind die Kunstwerke, die das Bauwerk nobilitieren, und es ist das Zusammenspiel zwischen dem, was am Schloss Kalsdorf unverändert belassen oder in konservatorischer Absicht nur minimal bearbeitet wird und dem, was mit Feingefühl und persönlichem Einsatz neu gestaltet wurde, das den Reiz dieses außergewöhnlichen „Work in progress“ ausmacht.

Helmut Reinisch, der Renaissancemensch, hat einen Weg gefunden, sein Lebens- und Arbeitsmodell zu verwirklichen, ohne hohes Erwerbskapital eingesetzt zu haben. Sein Kapital sind die Liebe zur Kunst und ein rastloser, von Leidenschaft beflügelter Geist (Besuch nach telefonischer Voranmeldung: www.schlosskalsdorf.com). ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2008)

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