Architektur im Pelz

Wenn Computer und Roboter sich verbünden, um Architektur zu schaffen: Neue Entwurfs- und Produktionsverfahren machen das Ornament wieder zum Thema.

Pünktlich zum 100. Jubiläum von Adolf Loos' Text „Ornament und Verbrechen“ scheint das Ornament endgültig ins Zentrum der Architekturdiskussion zurückzukehren. Abgezeichnet hat sich dieser Trend schon seit einigen Jahren. Er zeigte sich primär darin, dass Architekten sich wieder explizit dazu bekannten, die Oberflächen in und an ihren Gebäuden zu verzieren. Das war in der Sache nicht neu, denn trotz des offiziellen Verzierungsverbots der Moderne ist die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts voll mit Ornamenten, deren Schöpfer diese Bezeichnung aber meist vermieden. Ornament als rhythmisch-abstrakte Verhüllung war auch in den 1950er- und 60er-Jahren zulässig, da es sich auf die zeitgenössischen Tendenzen in der abstrakten Kunst stützen konnte. Mit der Pop-Art wurde das klassische Ornament wieder salonfähig, solange es eindeutig als ironisches Zitat zu erkennen blieb. Und seit den frühen 1990er-Jahren gehört die verzierte Oberfläche – vom bedruckten Glas und Beton bis zum Metallguss – überhaupt wieder zum Repertoire der Architektur, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann, ohne dafür eine besondere Rechtfertigung zu benötigen. Die Oberfläche wächst dabei über ihre Rolle, Teil eines plastischen Gefüges zu sein, hinaus und führt zusätzlich ein Eigenleben als Träger visueller Reize, die vom übrigen Bauwerk unabhängig sind.

Neu an der aktuellen Diskussion über das Ornament ist, dass es nicht mehr allein als formale Frage betrachtet wird. Damit wird die Debatte, die Adolf Loos vor 100 Jahren angestoßen hat, wieder aufgenommen. Denn Loos hatte in seiner Kritik das Ornament nicht als falsche Form kritisiert, sondern als nicht mehr zeitgemäße Art derProduktion. Ein handwerklich hergestellter Schuh könne ruhig ornamentiert sein, solange das Herstellen dieses Ornaments dem Schuster Freude bei der Arbeit bereite. Sobald das Ornament aber aus der Maschine käme, hätte es jede Berechtigung verloren. Es sei nur nostalgischer Überschuss und daher unökonomisch.

Den Gedanken, dass die Form von Produkten ihrem Herstellungsprozess entsprechen müsse, übernahm Loos von Gottfried Semper, der die Architektur auf einige Urformen der Herstellung zurückzuführen versucht hatte: das Legen des Fundaments aus Steinen, das Behauen von Balken und Pfosten, das Formen von Keramik und schließlich das Weben von Textilien. Als zentral für die architektonische Gestaltung sah Semper das Weben an: Die Wand habe ihren Ursprung nicht im Mauerwerk, sondern in der gewebten Decke, die über ein Gerüst gezogen wird. Für das Ornament spielt diese „Bekleidungstheorie“ naturgemäß eine besondere Rolle, da jedes Gewebe ein natürliches Ornament bildet. Im Bau konnte auf dieses Gewebe nur noch allegorisch verwiesen werden, und so ist etwa die Postsparkasse von Otto Wagner – in expliziter Anspielung an Semper – in ein dünnes Kleid aus Natursteinplatten gehüllt.

Wenn heute von einem „neuen Ornament“ die Rede ist, wie das der deutsche Architekturtheoretiker Jörg Gleiter in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift „archplus“ getan hat, bezieht sich dieser Begriff wieder auf die Frage der Produktion. Anlass, über das Ornament neu nachzudenken, sei die Möglichkeit, die Trennung zwischen Entwurf und Ausführung durch die Kombination neuer, computergestützter Entwurfs- und Produktionsverfahren zu überwinden. Über den Einsatz von Robotern auf der Baustelle hat die Industrie zwar schon vor 20 Jahren nachgedacht. Durch die Verbindung zwischen digital gestütztem Entwurf und digital gestützter Produktion beschränkt sich die Industrialisierung des Bauens aber nicht längerauf die Montage möglichst gleicher Teile. Heute sind die Möglichkeiten, architektonische Entwürfe am Computer nicht mehr zu zeichnen, sondern parametrisch oder algorithmisch zu entwickeln, weitfortgeschritten. Parametrisch bedeutet in diesem Kontext: Der Entwurf wird geometrisch so beschrieben, dass seine Form durch die Änderung weniger Parameter geändert werden kann. Die Elemente einer Serie können sich so deutlich voneinander unterscheiden. Algorithmisches Entwerfen verlagert die Entwurfsaufgabe überhaupt von der Geometriebeschreibung hin zur Definition von Programmen, mit denen Entwürfe mehr „gezüchtet“ als gezeichnet werden.

Damit ist auch ein Aspekt angesprochen, der für das Ornament immer schon Bedeutung hatte, nämlich die Beziehung zwischen Architektur und Natur. Im Unterschied zum gerahmten Bild hat das Ornament die Tendenz, sich auszubreiten. Es trägt gewissermaßen einen Code in sich, der sein Wachstum regelt. Das Ornament ist insofern bedrohlich, als es wuchern könnte, bis vom „Eigentlichen“ nichts mehr zu sehen ist. Die Loos'sche Behauptung in „Ornament und Verbrechen“, dass „heute nur noch Verbrecher und Degenerierte“ ihren Körper tätowieren, also mit Ornamenten verzieren würden, weist auch auf die Angst hin, dass sich im Ornament etwas Verdrängtes Bahn brechen könnte. Das Hundertwasserhaus ist gerade wegen seines Erfolgs die implizite Bestätigung dieser Ahnung: Die voll ornamentierte Fassade, noch dazu mit Grün überwuchert, verspricht dem Unbehagen in der Kultur Erleichterung.

Wo das Hundertwasserhaus eine sentimentale Verklärung von Natur als heiler Welt inszeniert, erlauben die neuen Entwurfs- und Produktionsmethoden jedoch eine radikal unsentimentale Haltung. Exemplarisch dafür sind die Projekte der französischen Architekten François Roche – derzeit Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst in Wien – und Stéphanie Lavaux, die gemeinsam unter dem Namen R&Sie(n) firmieren. Aufmerksamkeit erhielten Sie 2003 mit einem Museumsprojekt für Bangkok, dessen Außenhülle aus einem elektrisch geladenen Edelstahlnetz bestehen sollte, in dem der Staub der Atmosphäre sich gefangen und das Museum in einen künstlichen Pelz gehüllt hätte. Das Projekt, das sich in der Ausführungsplanung befand, wurde nach dem Militärputsch 2006 gestoppt. Ihr aktuellstes Projekt, ein Gletschermuseum für Evolène im Schweizer Wallis, nimmt den äußeren Umriss der traditionellen Blockhäuser auf, füllt ihn aber mit einer robotergefrästen hölzernen Großform. Außen wachsen aus ihr Stacheln, zwischen denen Drähte gespannt sind. Im Winter sammelt sich hier der Schnee und füllt die traditionelle Form wieder auf. Künstliche Beschneiung soll den Effekt verstärken, Abschmelzen und Vereisen die Oberfläche variieren.

Ob die Rede von einem „neuen Ornament“, wie es sich hier zeigt, relevant bleibt, ist offen. Dass die neuen Entwurfs- und Produktionsmethoden massiven Einfluss auf die Architektur nehmen werden – von ihrer Geometrie bis zu ihrer kulturellen Bedeutung – steht aber außer Frage. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2008)

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