Damals schrieb Erhungern große Talente?

Wien, 15. September 1865. Je ärmereine Zeit an Talenten ist, desto eifriger beschäftigt sie sich mit der Frage: durch welche Umstände die Talente nicht zur Entwicklung und Reife gelangen. Und je dürftiger ein Talent ausgestattet ist, desto emsiger sucht es seine Mängel auf den Begriff des Jahrhunderts abzuladen. Noch geläufiger ist dem dürftigen Talent das Klagelied über den Kampf mit dem Elend, und nicht selten steht es seufzend vor den Fenstern des Reichthums, durchdrungen von der Ueberzeugung, daß sich in einer weniger engen Stube das geistige Vermögen steigern, der beschränkte Gesichtskreis erweitern werde. Der Anblick des irdischen Glücks bei Goethe hat viele derartige Täuschungen hervorgerufen, aber der Anblick der siegreichen Kraft bei Schiller, dem der Jammer nichts anzuhaben vermochte, hat die Selbsterkenntnis der Kleinen befördert. Wie sollte es auch sein! Das untergeordnete Talent ist im bösen Sinne mit sich beschäftigt, und will etwas in und von der Welt; das große Talent ist unbewusst mit den höchsten Interessen der Welt verknüpft, und sie ist es, die mit und in ihm etwas will.

Wol giebt es viele Beispiele von hervorragenden Geistern, denen es schlecht auf der Erde ergangen, aber es heißt auch, daß in dem erhöhten Schmerzgefühl, das aus der Betrachtung des Daseins quillt, in jenem Kummer, welcher nicht mit Brod gemildert und nicht mit Wein hinweggespült werden kann, das tiefe Leiden der Denker, Dichter und Künstler wurzelt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2015)

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