Damals schrieb Die (un)feine englische Art

Wien, 26. October 1865. Der Umschwungder socialen Verhältnisse Englands ist gewaltig. Wol gibt auch heute noch die Aristokratie den Ton in der fashionablen Welt an. Von ihr stammen die strengen Eßgesetze über Handhabung von Gabel und Messer, sie bestimmt die Stunden, wenn die auf Eleganz Anspruch machende Menschheit aufstehen, frühstücken, spazieren und schlafengehen soll. Schüchtern lauscht der höhere Bürgerstand ihren ungeschriebenen, ewig wechselnden, zuweilen vernünftigen, aber sehr häufig gar albernen Gesetzen über das, was fein und unfein ist, ja, sogar die englische Aussprache wechselt stark, je nach Launen und Zufälligkeiten, und ganz England bemüht sich, das a in dancing bestimmter oder unbestimmter auszusprechen, je nach Mode in the higher circles.

Talent, Rang, Schönheit und Reichthum allein vermochten den Eintritt in die exclusiven Salons von London nicht zu erobern. Viel hing von der Caprice der tonangebenden Persönlichkeiten ab, und Mancher mochte nicht mehr vorzeigen, als ein gut Stück Frechheit, versetzt mit Blasirtheit, Affectation und etwas Witz. Was willkommen sein wollte, mußte die Kunst verstehen, eine gewisse Grenze des Salon-Schicklichen nicht zu überschreiten. Die Damen waren prüde und ausgelassen; zu den Ladies sprachen die Herren sehr parfumirt, von ihnen höchst ungewaschen, oder auch umgekehrt. Es war wirklich jeder Styl erlaubt, nur nicht der bürgerliche.

Ganz so allmächtig ist die englische Aristokratie heute aber nicht mehr. Wenn sie den Modeton angibt, ist sie nicht mehr so exclusiv, bon ton ist ihr nicht das Höchste auf Erden, sie hat gelernt, Tugenden auch im schlichten Gewande zu ehren, ihre frühere Selbstüberhebung beugt sich dem Selbstbewußtsein der Bürgerclassen, Saufen und tolles Hazardspiel sind aus der Mode, und das abgeschmackteste Geschöpf aus den Tagen der Gesellschaft, der Dandy, existirt nicht mehr. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2015)

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