Damals schrieb Im Vorhof der Weihe

23. December 1865. Em. K. Das Burgtheater feierte neulich sein Weihnachtsfest, und zwar durch die Aufführung der „Sappho“. Wie ein Tannenbaum, der schon im Walde erfreut hatte, nun auch im traulichen Weihnachtszimmer Luft und Leben um sich erweckte, so erfreute bei der jüngsten Darstellung der „Sappho“ diese alte Dichtung. Des Fräulein Wolter wegen, welche die Sappho spielte, hatte sich das Publicum versammelt, und als das Gedicht eine Weile in seiner stillen Schönheit athmete, da glaubten die Zuschauer, sie seien Grillparzer's wegen gekommen, und ehe eine Stunde verronnen, waren sie davon überzeugt, und horchten dem Poeten und gaben dem Drama ihre ganze Seele hin. Niemand dachte daran, daß es ein altes Stück sei, daß es einen antiken Stoff behandle. Und wem die Mängel des Werkes noch gegenwärtig waren, der lachte bereits den kleinen Recensenten in der eigenen Brust aus, als das Glockenzeichen ertönte, das den Schluß des Actes anzeigte.

Aber diese selige Hingabe an die Dichtung schlägt nicht auch alle Bedenken gegen die Darstellung nieder. Es ist erstaunlich, wie weit es Fräulein Wolter gelang, die Gestalt der Sappho zu veranschaulichen, da dies doch eine Aufgabe ist, welche eigentlich über den Kreis ihres Talentes hinausfällt. Die volle, warme Idealität wird keiner, der die Künstlerin kennt, erwartet, und Jeder, dem das dichterische Bild lieb und theuer ist, befürchtet haben, daß Fräulein Wolter gerade mitihrer Begabung hier die poetische Stimmung verscheuchen, daß sie die Empfindung überhitzen und die Gesammtwirkung trüben werde.

Das that Fräulein Wolter nicht. Sie wich zwar jener Hoheit aus, welche sich ins Irdische verirrt, um nach schwerem Kampfe in ihren kalten Frieden zurücktreten. Aber sie bewahrte stets die strenge Haltung und führte und in den Vorhof der Weihe hinein. Die Dichtung selber sorgte dafür, daß sich auch um die Sappho der Abglanz des goldenen Lichtes nicht gänzlich verlor, und die Darstellung des Süßschaurigen war von einer Fülle, welche den etwas willkürlichen Weg dahin vergessen machte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2015)

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