Da kommt noch was!

Wenn Architektur Gewohnheiten nicht mehr herausfordern dürfte, gäbe es keine Entwicklung. Eine Antwort auf Peter Reischers Polemik gegen die Stararchitektur von vergangener Woche.

Endlich sagt einer, was die meisten schon lange denken. Auch wenn Peter Reischers vorige Woche im „Spectrum“ unter dem Titel „War das schon alles?“ erschienene Polemik sich vor allem gegen Zaha Hadid richtete, ist klar, wer gemeint ist: die Stararchitekten und ihre Epigonen, die durch „bedenkenlose Ausnutzung einer Masche“ einen „an Kolonialismus erinnernden Architekturexport“ betreiben.

Sie erdreisten sich, nicht nur Häuser zu entwerfen, sondern auch Möbel, Schmuck, Stoffe, Jachten und sogar Kleidung. Wo, so Reischer, bleibt da noch der „soziale Auftrag, der gesellschaftsbildende, kulturelle Input der Architektur“? Stararchitekten gingen über Leichen, wie man an Hadids kalter Reaktion auf die tödlichen Unfälle auf Baustellen für die Fußball-WM in Katar ablesen könne. Solche Sentimentalitäten könne sich nicht leisten, wer meist damit beschäftigt sei, totalitären Staaten „mit Prunkbauten ein legitimistisches Feigenblatt“ zu liefern.

Dabei fehle es dieser Architektur am Wesentlichen, nämlich der „Fassade als bildgebender Metapher für ein Bauwerk“. Worte wie Haus, Kirche oder Moschee „rufen in unserem Gehirn – je nach kulturellem Hintergrund – ein Haus als Kubus mit Satteldach, eine Kirche mit Turm und die Moschee mit Kuppel und Minarett“ auf. Dekonstruktivistische Architektur von Gehry bis Coop Himmelb(l)au sei nicht mehr fähig, Fassaden und damit klare Bilder zu produzieren. „Das – meist sehr verwirrende – Körperhafte überwiegt, das menschliche Auge kann sich kein Bild mehr machen.“ Ästhetischer Kolonialismus, soziale Kälte, ethische Indifferenz und eine endlose Produktion der immer gleichen Bilder mit rein kommerziellen Interessen: Wenn das den Stand der Architektur beschreibt, dann wäre sie – wie Peter Reischer resümiert – tatsächlicham Ende.

Reischers Polemik verdient eine Entgegnung nicht um ihrer selbst willen, dazu ist sie auf zu schwachen Fundamenten gebaut. Architekten, die nicht nur Häuser, sondern auch Stoffe, Möbel und Kleidung entwerfen, sind wohl alles andere als neu in der Architekturgeschichte. Ob sie heute ihre Sache genauso gut oder besser machen als Designer, ist die einzige Frage, die in diesem Zusammenhang interessiert. Bedenkenloses Ausnutzen einer Masche, ästhetischer Kolonialismus?

Ästhetisch betrachtet, war auch die internationale Moderne eine Masche, die bis heute 90 Prozent der globalen Bauproduktion beherrscht. Genau gegen diese Massenproduktion hat sich die Stararchitektur positioniert, teilweise in einer Nische, teilweise mit dem Anspruch, neue Regeln für die 90 Prozent zu finden. Von einer ästhetischen Weltherrschaft dieser Versuche sind wir aber weit entfernt, und selbst wer zur Gruppe der Stararchitekten nur Coop Himmelb(l)au, Hadid, Gehry, Koolhaas und Herzog & De Meuron zählen möchte, ist heute mit einer Spannweite konfrontiert, die in der Architekturgeschichte einzigartig ist. Dass diese Architektur keine Fassade mehr hätte, ist erstens Unsinn und wäre zweitens auch kein Grund, ihr Einprägsamkeit abzusprechen. Auch unsere Wahrnehmung entwickelt sich weiter, und was vor 30 Jahren irritierend war, ist heute zu neuen Typologien geworden, die meist komplexer sind als die klassischen, denen Reischer nachtrauert.

Von Zaha Hadid ist das Bonmot überliefert, mit dem sie einem Journalisten, der an ihrem Sofa „Iceberg“ kritisierte, man könne darauf keine zehn Minuten sitzen, antwortete: „Da müssen Sie noch an Ihrer Sitzhaltung arbeiten.“ Das ist arrogant, aber trotzdemnicht völlig unberechtigt. Wenn Architektur Gewohnheiten nicht mehr herausfordern dürfte, gäbe es keine Entwicklung. Bleibt schließlich der Vorwurf, dass dieser Architektur das soziale Engagement und die ethische Haltung fehlen. An diesem Punkt wird es interessant, denn hier ist Reischers Polemik stellvertretend für einen Trend, Architektur vor allem an ihren guten Absichten zu messen.

Dieser Trend hat heuer auch die Architekturbiennale in Venedig erreicht, deren Direktor Alejandro Aravena das Thema „Reporting from the Front“ ausgegeben hat. Die Biennale möchte Ansätze präsentieren, von denen man lernen könne, „trotz knapper Ressourcen zu intensivieren, was verfügbar ist, statt über den Mangel zu klagen“. Es gehe um „die Werkzeuge, mit denen sich die Kräfte, die das ,Ich‘ über das ,Wir‘ stellen, subversiv umgehen lassen“, und um Fallbeispiele, die unter widrigen Umständen weiterhin „die Mission der Architektur verfolgen, das Mysterium der ,conditio humana‘ zu durchdringen“. So viel heroisches Pathos hat es seit Langem nicht mehr im Architekturdiskurs gegeben. Intelligentes Sparen, das schon bei der Aufgabenstellung ansetzt und nicht erst bei den Details, sollte zur Kernkompetenz guter Architekten gehören. Sich im Umgang mit dem Mangel bereitwillig dem Sparzwang zu unterwerfen kann aber auch jenen in die Hände spielen, denen die Ausplünderung der öffentlichen Haushalte in den Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte zu verdanken ist: Standards zu senken, um Wohnraum für das Existenzminimum zu schaffen, ist alles andere als sozial.

Diese Entwicklung könnte tatsächlich zum Ende der Baukultur führen, denn Kultur bedeutet nichts anderes als den Wunsch, Wertvolles zu schaffen. Was genau wir unter „wertvoll“ verstehen, ist eine Aushandlungssache, von der die Entwicklung der Kultur lebt. Wenn aber die Notlösung zum Standard erklärt wird, ist der Wunsch, Wertvolles zu schaffen, an sich in Gefahr. Was übrig bleibt, ist gleichgültiges und gedankenloses Bauen, von dem es auch ohne Krise genug gegeben hat.

Aktuell geht es darum, die Übersicht über die Verhältnisse nicht zu verlieren und den Handel mit guten Gedanken zwischen den Welten diesseits und jenseits der „Front“ zu fördern. Dann wäre der gegenwärtige Wechsel der Aufmerksamkeit der Architekturszene hin zu kleinen, spontanen, partizipativen und temporären Interventionen mehr als nur eine Mode, die nach zwei Jahrzehnten Dominanz der Großarchitektur kommen musste, nämlich eine Erweiterung der Optionen.

Manche Großarchitekten haben dazu schon Vorleistungen erbracht. Herzog & De Meuron planten unter Verzicht auf ihr Honorar im brasilianischen Natal eine Sporthalle im Zentrum des Arbeiterbezirks Mãe Luiza, der vor 40 Jahren noch eine Favela war. Jedes kleinste Detail dieses Projekts hat die Qualität, die man von Stararchitekten erwartet: ein luftiges Satteldach mit runden Einbauten, aus Stahlträgern einfach konstruiert und trotzdem, durch einen simplen geometrischen Kunstgriff, spektakulär aufgelöst. Ohne Zweifel ein besonderer Ort: Warum sollten sich die Bewohner von Mãe Luiza mit weniger zufrieden geben? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2016)

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