Auffallend unauffällig

Ein einfaches Haus wurde gewünscht, in einer geschlossen bebauten Häuserzeile am Stadtrand. Ein unspektakulär funktionierender Ort zum Leben und Arbeiten ist es geworden. Geplant von Jürgen Radatz in Wien.

Vielleicht ist die Ära der Stararchitekten ja gerade dabei, zu Ende zu gehen. Der österreichisch-schwedische Anti-Star Josef Frank hat jedenfalls im Zuge der derzeitigen Ausstellung im MAK hierzulande in letzter Zeit eine enorme Fangemeinde gewonnen. Seine unaufgeregte, unpathetische und antimonumentale und jedenfalls immer offene, flexible Herangehensweise trifft offenbar den Nerv einer Gegenwart, die Architektur wieder als prozesshafte Entwicklung der besten Lösung im Dialog von Planenden und Auftraggebern begreifen möchte – in Reaktion auf die gegebenenUmstände in Topografie, Bestand und praktischen Anforderungen und inklusive der Möglichkeit zu Umbau, Weiterbau und Nutzungsänderungen. So selbstverständlich diese pragmatische Definition von Architektur klingt, so sehr ist sie mit der Entscheidung für ein uneitles, aber alles andere als unambitioniertes Berufsbild verbunden. Und es sind eben diese Qualitäten, die Architekten wie Friedrich Kurrent, Johannes Spalt und Hermann Czech in der verknöcherten Atmosphäre der Nachkriegsjahrzehnte Österreichs wieder entdeckt, geschätzt und in ihrer eigenen gebauten Praxis umgesetzt haben.

Oder Anton Schweighofer. Bei ihm, an der Wiener TU, hat der in Vorarlberg geborene Architekt Jürgen Radatz studiert, dessen Wiener Büro einen solchen Ansatz vertritt. Seine kleinen Interventionen im Stadtraum, ruhig und sorgfältig gestaltete Geschäftsportale, die die historische Umgebung respektieren, ohne sich ihr anzubiedern, nimmt wahr, wer mit offenen Augen durch die Straßen geht, und sieht, wie Farben und Materialtexturen, Proportionen und Lichtführung ein schlüssiges Gesamtes ergeben.

So auch der Auftraggeber eines Hauses in Wien, der den Architekten kontaktierte, nachdem er eine solche Portalgestaltung in der Innenstadt gesehen hatte. „Haus eines geistigen Arbeiters“ hätte man so ein Projekt wohl in den 1920er-Jahren in der etwas pathetischen Sprache der Zeit genannt, „Wohnhaus in Wien“ hätte es bei Architekten wie Frank geheißen. Ein einfaches Haus sollte es sein, in einer geschlossen bebauten Häuserzeile am Stadtrand, für die Familie eines Kunsthistorikers, der nichts weniger als ein Kunstwerk mit Wohnfunktion wollte, sondern vielmehr einen unspektakulär funktionierenden Ort zum Leben und Arbeiten.

Das ist es geworden. Straßenseitig stand ein desolates ebenerdiges Wohnhaus, das nach Umbauten und Leerstand nicht erhaltenswert war. Im Hof des trapezförmigen Grundstücks fand sich die Bausubstanz einer ehemaligen Fabrikation für Nadeln zum Aufspießen von Insekten, nicht spektakulär, aber besser erhalten und prinzipiell adaptierbar. Der Abriss einer hofseitigen Garage ließ die Großzügigkeit der Parzelle sichtbar werden, die nach zwei Seiten mit Ziegelmauern zu den benachbarten Gärten abgegrenzt ist.

Entstanden ist ein Ensemble, das im Gegensatz zur häufigeren Vorgangsweise nicht das Alte an der öffentlichen Straßenseite bewahrt und im rückwärtigen Bereich zeitgenössisch auflöst, sondern die Situation umkehrt – ein Neubau wurde an der Straßenseite erstellt, während im Hof die alte Bausubstanz zum Teil belassen wurde. Durch den Abbruch des vorderen Gebäudes wurde die Neukonstruktion eines Wohntraktes möglich, der sich zur straßenseitigen Umgebung – ganz im Sinne der klassischen Moderne und dem Wunsch des Auftraggebers entsprechend – architektonisch eher distanziert verhält. Das heißt: Die Straßenfassade hat keine repräsentative Funktion, sondern ergibt sich aus der inneren Anlage des privaten Wohnhauses.

Dörflich wirkende Szenerie

Dabei ist sie in ihrer Reduktion harmonisch komponiert, mit einem breiten, durchgehenden Fensterband, das den dahinter liegenden Räumen Morgensonne gibt, über dem Tor der Doppelgarage, daneben zwei Nebenraumfenster und die schmale Haustür. Dahinter empfängt Eintretende ein sonniges Foyer mit Treppe ins Obergeschoß, das den geschützten Garten über eine große hofseitige Glastür ins Haus holt. Der Blick auf die fast dörflich wirkende Szenerie macht die Leichtigkeit und Transparenz deutlich, die die private Seite des Hauses kennzeichnen. Der neue Wohntrakt öffnet sich, von den Nachbargrundstücken uneinsehbar, zum Freibereich und nimmt in zeitgenössischer Form das Motiv der Pawlatsche auf: Verglaste Gänge erschließen die Räume im Erd- und Obergeschoß hofseitig und holen den Garten so permanent nach innen.

Den rechten Teil des u-förmigen Baus nimmt ein großzügiger Wohnbereich mit offener Küche ein, der zwei Glaswände zum Garten hat. Ihm vorgelagert ist ein gedeckter Sitzplatz, der durch die Terrasse vor dem Schlafzimmer im Obergeschoß entsteht. Hier war Schutz vor zu viel Südsonne gewollt, zugleich sollten aber die freien Blickbezüge zwischen Haus und Garten gewahrt bleiben. Daraus ergab sich für den Architekten als logische Konsequenz eine Abrundung der Terrasse. Dem Bauherrn, der mit Radatz' orthogonaler, reduzierter Architektursprache völlig einverstanden war, musste die vermeintlich verspielte Lösung erst vermittelt werden. Am Ende überzeugte sie ihn völlig.

Im gegenüberliegenden Trakt des lang gestreckten Ensembles, das an die regionaltypische Bauform eines Hakenhofes denken lässt, wurde der auf dem Grundstück vorgefundene kleine Fabrikstrakt belassen und zu Arbeitsräumen für das Bauherrenpaar gemacht. Aus den Gegebenheiten der Parzelle entstandene Unregelmäßigkeiten wurden aufgenommen und in das Konzept integriert, bis hin zur Wiederverwendung zweier vor Ort vorhandener alter Straßenlaternen und der Ziegel-Umfassungsmauer, die unverputzt blieb, wo die Garage weggerissen wurde, und bei sichtbar bleibender Mauerwerksstruktur hell gestrichen wurde, wo sie ohnehin nicht mehr roh war. Die Geschichte des Grundstücks und seiner Bebauung wurde so mitsamt zufälligen Gegebenheiten in das Konzept einbezogen und zum bereichernden Teil des Ganzen. „Ein Umbau ist interessanter als ein Neubau – weil im Grunde alles Umbau ist“, schrieb Hermann Czech einmal. Auch hier ist selbst der Neubau Umbau, indem er sich in Beziehung setzt zu dem, was schon da war, und zu dem, was davon geblieben ist.

Das alles ist im herkömmlichen Sinne nicht auffällig – außer durch seine Qualität. Es ist nicht spektakulär. Es hat nicht das Zeug zur Stararchitektur. Aber es gibt dem Leben der Bewohner einen guten Rahmen. Für das Grundstück und für das Straßenbild ist das – mit durchaus begrenzten finanziellen Mitteln realisierte – Einfamilienhaus ein Glück, vielleicht ein Luxus. Und für die Beteiligten ist dies die Tatsache, dass im Zuge der Zusammenarbeit von Auftraggeber und Architekt beim Hausbau beide auch Freunde geworden sind. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.