Wiener April dauert 90 Tage

Wien, 19. Mai 1866. Der Kampf der Jahreszeiten ist überall heftig, im Wiener Becken aber ist es ein förmlicher Barricadenkampf, ein Kampf von Straße zu Straße.

Man kann über diese Kampfart sehr genaue Detailstudien im Laufe eines Wiener Aprils machen, denn ein solcher dauert 90 Tage – vom März bis Juni. Wir wären schon längst in der Lage, etwas in der Kriegswissenschaft ganz Neues auf diesem Gebiete zu leisten, nämlich eine klimatische Kriegskarte von Wien zu entwerfen. Auf dieser Karte könnten wir von Straße zu Straße den Kampf zwischen Winter und Sommer machen. Ein ungeheures Schlachtfeld! Höchst verwickelte Defilés und Debouchés! Hier frühstückt man in einer Gasse, welche ein Hauptquartier des Winters ist; dort speist man auf einem Platze, wo der Generalstab des Sommers campirt. Man hat sein Bureau in einem Eckhause, welches täglich dreißigmal gestürmt wird, und geht Abends in ein Logis schlafen, welches schon erstürmt ist.

Als wir das Haus verließen, rief uns der Platzcommandant lustig zu: Der Tag ist unser! und schwang triumphirend seinen Commandostab, eine Quecksilbersäule mit zwanzig Grad Réaumur. Wir kommen nach Hause und der Platz ist erobert! Die Fensterscheiben sind zertrümmert, der Schreibtisch mit Schornsteinfragmenten, das Bett mit Baumzweigen aus irgend einem entlegenen Garten bedeckt – kurz, Artillerie von allem Kaliber! Das Uhlanen-Regiment bis auf den letzten Mann aufgerieben! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2016)

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