Eine Front findet sich immer

Alle zwei Jahre versammelt sich die Architekturszene zur Positionsbestimmung in Venedig. Diesmal ist sie gerade noch nicht unter die Räder der guten Absichten geraten.

Less aesthetics, more ethics“, so betitelte Massimiliano Fuksas die von ihm im Millenniumsjahr 2000 kuratierte Architekturbiennale. Wer erinnert sich noch an die lange Flucht von Projektionen in den Räumen des Arsenale, in denen Fuksas ein Weltpanorama der Architektur aufrollte? Als Labor über die „planetare Dimension“ aktueller Probleme im Spannungsfeld von Umwelt, Gesellschaft und Technologie gedacht, scheiterte diese Biennale in der Umsetzung. Die Bilderflut überrollte die Besucher, ohne dass sich die Konturen einer Alternative zum laufenden Betrieb erkennen ließen. Ähnlich erging es wenig später Richard Burdett, der sich bei der Biennale 2006 zwar nicht auf den ganzen Planeten, aber immerhin auf dessen urbanisierten Teil konzentrierte.

Heuer sucht Alejandro Aravena als Direktor der aktuellen Architekturbiennale einen anderen Zugang zum Thema. Am Planeten interessiert ihn nicht mehr die weltumspannende, gemeinsame Oberfläche, sondern die Grenzlinie in ihrer radikalsten Form, der Front. Mit dem Titel „Reporting from the Front“ stellt Aravena die heurige Biennale unter ein Motto, das leicht missverstanden werden kann. Die Front markiert die umkämpfte Grenze zwischen Freund und Feind, zwischen Eigenem und Fremden. Vor ein paar Jahren hätte das aus europäischer Perspektive nach einem exotischen Thema über Frontlinien in Kriegsgebieten ferner Länder geklungen. Heute dominieren diese Themen die europäische Politik.

Aravenas Vorstellung von „Front“ geht jedoch weit über diese Kriegsrhetorik hinaus. In seiner Beschreibung des Themas klingt die Vorstellung einer neuen Avantgarde der Architektur an, die unter den Bedingungen des Ausnahmezustands mit frischen Ideen ans Werk geht. Die Biennale möchte Ansätze präsentieren, von denen man lernen könne, „trotz knapper Ressourcen zu intensivieren, was verfügbar ist, statt über den Mangel zu klagen“. Es gehe um „Werkzeuge, mit denen sich die Kräfte, die das ,Ich‘ über das ,Wir‘ stellen, subversiv umgehen lassen“, und um Fallbeispiele, die unter widrigen Umständen weiterhin „die Mission der Architektur verfolgen, das Mysterium der ,conditio humana‘ zu durchdringen.“ Ziel sei ein Verständnis zu wecken für „Design als Mehrwert statt als zusätzlicher Kostenfaktor“.

So viel heroisches Pathos hat es seit Langem nicht mehr im Architekturdiskurs gegeben. Dass Avarena für diese Art von Engagement heuer mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde, beweist, dass die Zeit dafür reif war, 15 Jahre, nachdem Fuksas die Formel „Less aesthetics, more ethics“ zur Diskussion gestellt hat. Aravena geht es in erster Linie um konkrete Aktionen, was sich auch in der Beschriftungen der Arbeiten in den beiden von ihm direkt kuratierten Ausstellungen im Hauptpavillon und im Arsenale widerspiegelt. Sie beginnen jeweils mit „The work of . . . in . . .“, wobei damit nicht das Werk im Sinn eines Objekts gemeint ist, sondern das Arbeiten an einem konkreten Ort. Konsequenterweise zeigt Aravena fast ausschließlich realisierte Projekte und keine Utopien, und nicht immer sind Architekten die Hauptakteure, so etwa bei „The work of EFM (Public Companies of Medellin) and the mayor's office to change the fate of the city“.

In Summe ist Aravena eine Weltausstellung einer anderen Architektur gelungen, nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht doktrinär nur akute Krisenintervention als Notlösungen zeigt, sondern auch Arbeiten – oder genauer Arbeit –, die auf Dauerhaftigkeit und höchste Qualität setzen. Es ist symptomatisch, dass ein eigener Raum Renzo Piano gewidmet ist, einem Architekten, der neben Großprojekten immer auch Ad-hoc-Architekturen entwickelte, beides auf höchstem Niveau. Aus Österreich überrascht im Arsenale „The work of Marte.Marte in Vorarlberg“, das hier an der Frontlinie zwischen Natur und Architektur präsentiert wird.

Unter den Länderpavillons widmen sich Deutschland und Österreich den Themen Flucht und Migration. Der deutsche Pavillon präsentiert sich als unmissverständliches Bekenntnis zu Deutschland als Einwanderungsland. Nur in einem Raum geht es um die akute Flüchtlingskrise, alle anderen widmen sich der Frage, wie Deutschland zur Heimat für die neu Ankommenden werden kann. Ausgehendvon Thesen aus Doug Saunders' Buch „The Arrival City“, werden die urbanen, architektonischen und sozialen Anforderungen an die Stadt unter Migrationsbedingungen ausgelotet. Das Bekenntnis zur Offenheit drückt sich auch im Raum aus: Mehrere großformatig in die Außenwände gebrochene Durchgänge lassen Wind und Regen in den Pavillon, bieten aber auch neue, lohnende Ausblicke.

Der österreichische, von Elke Delugan mit Liquid Frontiers kuratierte Beitrag setzt vor den Pavillon ein irritierendes Element: eine scheinbar schwebende Stahlbetonplatte, die man als einladenden Gabentisch, aber auch als massiven Grenzbalken interpretieren kann, wobei Letzteres wohl die Mehrheitsposition zur Immigrationsfrage in Österreich (und Deutschland) symbolisiert. Hinter diesem Balken findet sich die Dokumentation von drei noch laufenden Projekten in Wien, die Caramel, EOOS und Next Enterprise mit Flüchtlingen und für Flüchtlinge in Wien erarbeitet haben. Räumlich wurde Heimo Zobernigs Installation von der jüngsten Kunstbiennale beibehalten und nur um einen großen Tisch mit Materialien und Videos ergänzt. Davor, im Eingangsraum, finden die Besucher Stapel großformatiger Poster mit Fotos von Flüchtlingen zur freien Entnahme. Wenn diese Installation als Entlarvung zu leicht gemachter Anteilnahme gedacht war, ist sie jedenfalls gelungen. Hauptprodukt der Ausstellung ist aber eine gut aufgemachte, großformatige Zeitung, die einem internationalen Publikum nicht nur die drei direkt im Rahmender Biennale entstandenen Projekte, sondern so gut wie alle relevanten Initiativen zum Thema in Österreich vorstellt.

Unter den übrigen Länderpavillons sticht der Schweizer Pavillon mit Christian Kerez' Beitrag hervor, der von Arbeit an einer ganz anderen Front berichtet. Kerez, der auch im Hauptpavillon mit einem Rechercheprojekt über eine Favela in São Paulo vertreten ist, installiert hier ein raumgreifendes, in den Dachstuhl ragendes Objekt, eine weich-amorphe Form mit grottenartigem begehbarem Innenraum. Das Objekt repräsentiert einen Nullpunkt der Architektur, ohne Bindungen sozialer, funktionaler oder inhaltlicher Art, durch Beobachtung von Zufall entworfen und mit enormem technischem Aufwand umgesetzt. Es ist das Weltwunder dieser Biennale, ein rätselhaftes Ding in einer Welt ohne Rätsel. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2016)

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