Lernen vom Ländle

Frankreich, wir kommen? Frankreich, wir sind schon da! Innerhalb weniger Jahre konnte das österreichische Büro Dietrich∣Untertrifaller sechs Wettbewerbe in verschiedenen Regionen Frankreichs gewinnen.

Französisch ist im Büro Dietrich∣ Untertrifaller zur Zweitsprache avanciert: Innerhalb weniger Jahre konnten sie sechs Wettbewerbe in verschiedenen Regionen Frankreichs gewinnen. Seit den 1990er-Jahren haben sich Helmut Dietrich und Much Untertrifaller – zunächst in ihrer Heimat Vorarlberg – für nachhaltige Bauweisen engagiert. Dabei ging es ihnen stets darum, neben den messbaren bauphysikalischen Aspekten auch städtebauliche, kulturelle und soziale Obliegenheiten nicht zu vernachlässigen. Während sich das ökologische Bauen in Österreich sukzessive etablierte und Vorarlberg generell zur diesbezüglichen Musterregion wurde, herrschte in Frankreich diesbezüglich Nachholbedarf. Ökologisches Bauen wurde erst ab der Jahrtausendwende zum halbwegs ernsthaften Thema.

Die im Jahr 2000 vonseiten des Staates und verschiedener Berufsverbände unterzeichnete Charta „Holz, Bau, Umwelt“ (Charte „Bois, Construction, Environnement“) und schließlich das 2010 verabschiedete Umweltschutzgesetz „Grenelle 2“, in dem unter anderem Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz von Gebäuden festgelegt wurden, lösten einen veritablen Holzbauboom aus – und großes Interesse am Bauen in Holz in anderen Ländern. Ausstellungen über Vorarlberger Architektur in Frankreich oder das Buch „L'architecture écologique du Vorarlberg“ von Dominique Gauzin-Müller trugen dazu bei, dass Legionen von französischen Architekten, Ingenieuren und Handwerkern nach Vorarlberg reisten, um sich Know-how zu holen, das im eigenen Land noch kaum vorhanden war.

Für das rasche Fußfassen eines österreichischen Architekturbüros in Frankreich wäre das allein zu wenig Erklärung. Werfen wir also auch einen Blick auf das französische Wettbewerbswesen: Es werden so gut wie immer zweistufige Verfahren ausgelobt – zuerst ein Bewerbungsverfahren und dann ein Realisierungswettbewerb, auch bei kleineren Bauaufgaben. Vorzulegen sind ziemlich punktgenau passende Referenzen. Wenn also eine Sporthalle mit hohem ökologischem Anspruch gefragt ist, ist es ratsam, eine ebensolche in seinen Unterlagen vorweisen zu können.

Es ist Usus, dass sich kleinere, jüngere Büros Partnerbüros, die Entsprechendes vorzuweisen haben, suchen, und wenn diese nicht im eigenen Land zu finden sind, dann im Ausland. In der Regel reichen pro Ausschreibung 100 bis 300 Architekturbüros aus ganz Europa ihre Mappen ein. Eine Handvoll wird sehr sachbezogen – weniger auf klingende Namen setzend – ausgewählt und zum Projektwettbewerb zugelassen. So stellten sich auch Einladungen bei Dietrich∣Untertrifaller ein, die mittlerweile den französischen Markt aktiv bearbeiten und seit 2010 prompt sechs Volltreffer landeten. Seit Februar dieses Jahres ist die Beziehung zu Frankreich auch im Firmenbuch festgeschrieben. Nach Bürostandorten in Bregenz, Wien und St. Gallen firmiert das Büro Dietrich∣Untertrifaller auch an einem Pariser Standort.

Das erste in Frankreich – mit den Partnerarchitekten Colas-Durand – fertiggestellte Projekt ist das Collège Jean Monnet im bretonischen Broons. Die vergangenen Sommer eröffnete Ganztagsschule für rund 600 Schüler liegt etwas außerhalb des Ortes, wo sie von den vielen Schulbussen, mit denen die Kinder täglich zum Unterricht anreisen, gut erreichbar ist. Auf einem Sockelgeschoß aus Stahlbeton, das Aula, einen Multifunktionssaal und die Verwaltung beherbergt, setzt der zweigeschoßige Klassentrakt beiderseits der von geschoßübergreifenden Lufträumen durchwirkten horizontalen Erschließung auf. Jeder Klassenraum erhält somit Tageslicht von mindestens zwei Seiten. Die an der Südseite angeordneten Stammklassen profitieren zudem von den an den Gebäudeenden und zwischen den Klassen eingefügten zweigeschoßigen Gewächshäusern, die zur Erschließungszone hin offen und von den Klassen über waagrechte Fensterbänder einsehbar sind.

Es finden sich etliche Merkmale der 2003 fertiggestellten Mittelschule im vorarlbergischen Klaus wieder, wie die um eine Mittelzone zweihüftig angeordneten Klassen, die Brücken zu den Klassen oder die zweiteiligen Fensterbänder, bei denen die großen, von außen beschattbaren Glasflächen von einem zweiten schmalen, zurückversetzten Fensterstreifen in Kopfhöhe der Kinder begleitet werden, sodass stets der Blick auch nach draußen schweifen kann. Ein beeindruckendes Schauspiel ist es, wenn mit Erklingen der Pausenglocke gleichzeitig Hunderte Schülerinnen und Schüler aus den Klassen auf die Erschließungsbrücken und über die Stiegen hinunter in die Aula, auf den überdachten Freibereich und in den Hof strömen. Das geht dank der Großzügigkeit und Helligkeit der Mittelzone und der Einsehbarkeit aller Ebenen ohne Gefühl der Beengtheit vonstatten.

Das Konzept scheint gut anzukommen. Kommenden Herbst ist 30 Kilometer weiter, in der Kleinstadt Lamballe, Baubeginn einer weiteren Schule von Dietrich∣Untertrifaller, die wiederum aus einem mit Raphaël Colas und David Durand gewonnenen Wettbewerb hervorging.

Holz spielt auch die materielle Hauptrolle bei zwei in diesem Frühjahr fertiggestellten Sporthallen. Vor einer Woche wurde in Longvic bei Dijon ein mit Sénéchal-Auclair Architectes aus Chalon sur Saône geplantes Sportzentrum eröffnet. Ebenso kürzlich in Betrieb ging eine in Holzskelettbauweise mit Strohdämmung errichtete multifunktionale Sporthalle im Herzen des neuen Stadtquartiers Bon Lait in Lyon.

In den nächsten Wochen und Monaten geht der französische Eröffnungsreigen weiter. In Straßburg nähert sich das bei durchgängigem Betrieb umgebaute und erweiterte Palais de la Musique et des Congrès der Komplettierung. Dietrich∣Untertrifaller haben im Juni 2011 den von der Stadt Straßburg ausgelobten Wettbewerb gemeinsam mit dem französischen Büro Rey-Lucquet & Associés gegen starke internationale Konkurrenz wie UN Studio, Sauerbruch Hutton und Baumschlager-Eberle gewonnen. Und im Herbst werden auf dem neuen Universitätscampus in Nancy die Lehrenden und Studierenden der Kunsthochschule ENSA einen Neubau der österreichischen Architekten beziehen: einen souveränen Betonbau mit edel-rohen Ateliers und Werkstätten, der die Kette der von verschiedenen Architekten nach einem Masterplan von Nicolas Michelin errichteten Fakultäten komplettiert. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2016)

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