Die dunkle Macht

Um ein paar Stunden der peinvollen Erwartung (heute schweigt der Telegraph vom deutschen Kriegsschauplatze gänzlich), um einen verregneten Sonntag-Nachmittag, wie diesen, kann uns wenigstens der neue Roman des Herrn Alexander Dumas Sohn betrügen.

Wien, 2. Juli 1866. Um ein paar Stunden der peinvollen Erwartung (heute schweigt der Telegraph vom deutschen Kriegsschauplatze gänzlich), um einen verregneten Sonntag-Nachmittag, wie diesen, kann uns wenigstens der neue Roman des Herrn Alexander Dumas Sohn betrügen. Das Buch gehört zu jenen, welche man nach den ersten zehn Seiten nicht mehr aus der Hand legen kann, welche man zunächst ganz willen- und kritiklos gleichsam über sich ergehen läßt, und die ruhig zu beurtheilen man seinem Geiste eigentlich erst ein Reinigungsbad in einem Homer'schen Gesange oder in einer Mozart'schen Symphonie verordnen sollte.

Der „Proceß Clémenceau“ ist, wie schon der Titel errathen läßt, eine Art von Criminal-Roman, in dem Sinne wenigstens, daß der Held, ein des Gattenmordes Angeklagter, in der Form einer Denkschrift für seinen Vertheidiger die Geschichte seines Lebens bis zu dem Augenblicke erzählt, da er sich den Gerichten stellte. Mit diesem Acte schließt das Buch, und es bleibt jedem Leser überlassen, sich selbst die Frage zu beantworten, ob wol die Geschwornen Pierre Clémenceau für schuldig erkannt oder freigesprochen haben mögen?

Wenn es dem Verfasser in diesem Roman um eine These zu thun war, so ist es die fatalistisch-physiologische, daß sich Anlagen zum Guten oder Bösen gerade wie physische Eigenschaften von Generation zu Generation vererben, und daß der unter einem schlimmen Stern Geborne der Erziehung, dem stärksten Willen, allem Wohlergehen zum Trotz, der Sünde verfallen, mit dem Verbrechen endigen muß. Dieser Satz wird wenigstens wiederholt in dem Buche aufgestellt; aber der Verfasser ist ihm keineswegs treugeblieben, er fühlte doch, daß zwischen dem Geschlechte des Tantalus oder des Pelops und uns das Christenthum liegt, und was er erzählt, ist zuletzt nichts Anderes, als die Geschichte eines Unglücklichen, der für sein Schicksal nur dieselbe dunkle Macht, die über uns Allen waltet, verantwortlich machen kann. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2016)

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