Verrottung der Zustände

Wien, am 29. November 1866. Der seit einem Jahre zurückgedämmte Strom der Erbitterung ist, nun ihm im niederösterreichischen Landtage die Schleusen geöffnet wurden, mit vernichtender Gewalt über die freie Bahn hereingebrochen.

Ein wahres Meer von Angriffen und Anklagen hat sich über die Sistirungs-Politik ergossen. Es ist nichts Neues, was die Redner bei der Adreßdebatte des Landtags gesagt haben; dieselben Rechtserklärungen, Beschuldigungen gegen die innere und die auswärtige Politik der Regierung sind hundertmal in Zeitungen und Freundeskreisen ausgesprochen worden.

Aber daß sie von der öffentlichen Tribüne verkündet wurden, daß an Stelle der gedämpften Sprache, zu welcher die Presse verurtheilt ist, Ausdrücke traten, die an Kraft dem Zorne eines in seinem Rechtsbewußtsein tief verletzten, um die Früchte seines mühseligen Schaffens verkümmerten, um sein Ansehen im Auslande gebrachten Volkes entsprachen; daß die Redner von der Macht der Ueberzeugung und der Vaterlandsliebe belebt und bewegt wurden: das sichert den Verhandlungen von gestern und heute ein Blatt in Oesterreichs Geschichte und ein Andenken im Herzen des Volkes. Oesterreichs Ehre ist gerettet! Vor der gebildeten Welt ist der Beweis geführt, daß das Volk nichts gemein hat mit der Politik seiner Regierung, nicht ihr Leben lebt, und darum nicht ihren Tod sterben wird; daß Geist und Herz der Deutsch-Oesterreicher nicht angesteckt sind von der Verrottung unserer Zustände. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2016)

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