Grazer Wohnbau: Es boomt, aber tut sich etwas?

In der wachsenden Stadt Graz boomt der Wohnungsbau. Zeit, um nachzuschauen, ob das konjunkturelle Hoch dazu führt, größere Vielfalt und höhere Standards des Wohnens zu entwickeln.

Wer sich je mit der in Österreich singulären Entwicklung der Architektur in Graz und der Steiermark ab den 1980ern beschäftigt hat, der weiß, dass dem Wohnungsbau dabei eine entscheidende Rolle zukam. Das von der damaligen Landesregierung initiierte Modell Steiermark legte in einem dem Wohnen gewidmeten Arbeitskreis besonderes Augenmerk auf eine qualitative Anhebung der Wohnsituation – weg vom reinen Funktionalismus des Wiederaufbaus hin zu einem zukunftstauglichen sozialen Wohnbau, der auf die nun bessere ökonomische Basis der Bewohner und ihre folglich entstehenden Ansprüche eingehen sollte.

Tatsächlich erblühte daraus der sogenannte experimentelle Wohnbau, der sich, typisch für die Steiermark, ganz ohne Wohnbauforschung und theoriegeprägte Herangehensweise entfalten konnte – einzig, wie Heiner Hierzegger in einem Geleitwort zum ersten Wohnbaukatalog schrieb, „im Mut, ausgefahrene Wege zu verlassen und unkonventionelle Lösungen anzubieten“. Strukturelle Veränderung lag in der Einführung von Architekturwettbewerben, die Bauvorhaben optimal vorbereiten sollten, und einem von der Politik geforderten besonderen Engagement. Entstanden ist Vielfalt: von der Großstruktur der Terrassenhaussiedlung zu Baugruppen-Initiativen, von der autofreien, dörflich geprägten Wienerberger Siedlung bis zur kleinen Wohnzeile auf dem Land.

Auch das Ende dieser fast eineinhalb Jahrzehnte dauernden Initiative ist bekannt. Das Wohnbau-Experiment wurde nach einem wahlbedingten Wechsel der politischen Verantwortung 1992 als gescheitert erklärt und ziemlich abrupt beendet. Von eitler Selbstverwirklichung von Architekten war die Rede und davon, dass einiges misslang. Der Gründe dafür könnten viele aufgezählt werden. Manch ein Scheitern war systembedingt, etwa durch das enge Korsett der Förderrichtlinien und ein Business-as-usual-Gebaren von gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaften. Danach entzündetesich jede Diskussion über einen zukunftsgerichteten sozialen Wohnungsbau an zu geringen Fördermitteln bei hohen Baukosten und wachsenden bauphysikalischen Vorschriften, die die Umsetzung von architektonischer Qualität und Vielfalt angeblich unmöglich machte.

Seit Jahren steigt die Einwohnerzahl von Graz kontinuierlich, und die Stadt hat offensichtlich immensen Bedarf an neuen Wohnungen. Man muss weder besonders fachkundig sein noch bis in entlegene Stadtrandgebiete wandern, um staunend zu sehen, wiederzeit letzte Baulücken, städtische Brachen und ehemals landwirtschaftlich genützte Flächen verbaut werden. Kein Zweifel, Bauen in Graz hat Hochkonjunktur.

Geändert haben sich Strukturen und Prämissen der Wohnversorgung. Geförderter Wohnbau, der nur von gemeinnützigen Bauvereinigungen und Kommunen errichtet werden kann, ist in den Hintergrund getreten. Ein Großteil der Wohnungen wird heute über Banken finanziert (genaue Zahlen sind nicht abrufbar). Investoren sind Immobilienentwickler, die sich auf die Errichtung von Wohnraum konzentrieren, und Unternehmen, die als selbstständig tätige Zweige aus gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaften hervorgegangen sind, um gewinnorientiert bauen zu können. Wohnungsbau ist in Zeiten, in denen Vermögende ihr Geld lukrativer anlegen wollen als auf der Bank, ein gutes Geschäft geworden.

Nachfrage schafft Angebot und vice versa – das war immer schon so. Neu am aktuellen Wohnungsmarkt ist, dass Nutznießer und Verbraucher nicht mehr in einer Person vereint sind. Wer kauft, bewohnt sein Anlageobjekt nicht selbst, und Mieter haben keinerlei Einfluss auf seine Qualität, Größe und Ausstattung. Wohnqualität als wesentliche Grundlage für ein gutes Leben kann oder, besser gesagt, könnte ausschließlich der Käufer einfordern.

Zeit also, um Nachschau zu halten, ob und wie dieser Qualitätsanspruch zurzeit in Graz, der Stadt, die um neue Bürger wirbt, erfüllt wird – heute, da Wohnungspreise in Graz statistisch bei 4000 Euro und mehr pro Quadratmeter liegen.

Fest steht, dass der Wohnungsmarkt in drei Teile zerfällt: in ein Angebot an hochpreisigen Wohnungen, die als Luxus und privates Paradies angeboten werden. In ein Angebot an geförderten Wohnungen in Großanlagen, die in Miete oder Mietkauf vergeben werden. Hier prüft der sogenannte Wohnbautisch die Einhaltung der Förderrichtlinien. Innovation sucht man vergeblich, aber das Bemühen um eine funktionelle Optimierung immer kleiner werdender Wohnungsgrundrisse und die Erhaltung vonStandards wie zweiseitiger Orientierung ist ablesbar. Und dann gibt es noch den frei finanzierten Wohnungsbau, der Rendite versprechende Vorsorge- und Anlegerwohnungen anbietet. In einem solchen Angebot wie dem aktuellen Bauvorhaben „Brauquartier Puntigam“, in dem rund 800 Wohnungen errichtet werden, sinken Qualität, Größe, Ausstattung der Wohnungen auf erschreckend niedrige Mindeststandards.

Das Kritikerherz freut sich, wenn es auf ein einziges Beispiel eines frei finanzierten Geschoßwohnbaus stößt, bei dem Ungewöhnliches ausprobiert wurde. Die sogenannten „Eggenberge“ stellen einen neu gedachten Typus des Wohnblocks mit begrüntem Innenhof dar, wie er die Grazer Gründerzeitquartiere charakterisiert. Der Sockel enthält gewerbliche Nutzung und die Garage, Wohnungen beginnen erst ab dem ersten Obergeschoß. Das Außergewöhnliche sind jene Wohnungstypen in jedem Geschoß, die mit großen, über die gesamte Trakttiefe eingeschnittenen Terrassen eine bewegte Dachlandschaft bilden, die die Wohnanlage markant charakterisiert. Der überwiegende Anteil der anderen Wohnungstypen sind größere Wohnungen, die zweiseitig orientiert sind. Ein Wermutstropfen: ein kleiner Anteil an Wohnungen mit deutlich geringerer Qualität. Pentaplan hat diese erfrischend lebendige Anlage geplant – ein Grazer Architekturbüro, das sich seit vielen Jahren mit Akribie und mittlerweile großer Erfahrung der systematischen Entwicklung finanzierbarer Alternativen zum geförderten Wohnbau verschrieben hat.

Was man daraus ableiten kann? Die Qualität des Wohnungsbaus regelt zurzeit nicht einmal mehr der Markt, und frei finanzierter Wohnungsbau zeigt nur in seltenen Einzelfällen höhere Wohnqualität als der geförderte. Von Experimenten in Graz keine Spur. Und die wichtigste Erkenntnis: Eine breite Entwicklung und Realisierung zeitgemäßer, an gesellschaftliche Veränderungen angepasste Wohnformen findet auch in Zeiten der Wohnbaukonjunktur nicht statt. Ein sozialer Wohnbau bräuchte erneut politische Rückendeckung und eine Steuerung, die durch Anreize und Engagement gekennzeichnet ist, damit Wohnen als Grundrecht besser, schöner und damit lebenswerter werden kann. Der Weg dahin scheint heute nicht kürzer zu sein als in den 1980ern, als in der Steiermark Architekten immerhin zu Experimenten animiert wurden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2017)

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