Damals schrieb

Kaiserin Charlotte

Wien, 15. August 1867. Ereignisse, wie jenes, dessen blutiger Schauplatz Queretaro am 19. Juni d. J. war, verlieren durch den Wechsel der Tage nichts von der erschütternden Gewalt, die sie im Augenblicke ihres ersten Bekanntwerdens geübt.

Bei der ungeheuchelten, der doppelten Majestät der Krone, wie des Unglücks geltenden Theilnahme, glauben wir einer Darstellung der letzten Leidensgeschichte von Miramar ein um so allgemeineres Interesse vindiciren zu dürfen, als bisher nur sporadische Mittheilungen und dies zumeist phantastische Entstellungen der Wahrheit, in die Oeffentlichkeit drangen. Man kennt die äußere Veranlassung, welche dieses helle Auge mit dem Schleier des Wahnes zu umfloren, diesen starken Sinn niederzubeugen vermochte.

Als am 10. October 1866 Kaiserin Charlotte von Rom nach Miramar gebracht wurde, konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß man es mit einer gänzlichen Zerrüttung der seelischen Functionen zu thun habe, die eine unheimliche Fülle von Wahnvorstellungen hervorrief, aus deren Gewirr sich nur allmälig die Furcht vor Verfolgung und Vergiftung als Angelpunkt jener Hallucinationen herausfinden ließ.

Das Angstgefühl erwies sich so mächtig, daß es den Gesichts-, Geschmacks- und Geruchssinn gänzlich influencirte und in jeder dieser Functionen die schrecklichsten Hallucinationen hervorrief. Des Gefühles der Beklemmung war sich Kaiserin Charlotte stetig bewußt; aber die Erklärungsgründe, die sie dafür vorzubringen wußte, bewiesen nur zu deutlich die Macht, mit der die dunkle Gewalt des Irrtums sie gefesselt hielt. Selbstverständlich ließen es die behandelnden Aerzte auch an Untersuchungen des physischen Organismus nicht fehlen. Allein alle Mittel, welche die Wissenschaft bietet, ließen nur zu der Erkenntnis kommen, daß es eine gesunde Hülle sei, die einen kranken Geist umschließe. Alles wies darauf hin, daß sich hier ein Gehirnleiden selbständig entwickelt hatte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.08.2017)

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