Alt, neu und gut

Engadin, östliches Graubünden: In zahlreichen Orten findet sich städtisch geprägte Wohnkultur, die ihren Ursprung am Ende des Dreißigjährigen Krieges hat. Dank hartnäckiger Initiativen wird regionale Bautradition neben zeitgenössischer Architektur beibehalten. Ein Streifzug.

Vrin, Flims, Vals heißen die bekannten Verwandten. Die Orte im westlichen Graubünden sind berühmt geworden durch ihre unaufgeregte, dem Ortsbild und lokalen Bautraditionen auf selbstverständliche Weise eingegliederte zeitgenössische Architektur. Rudolf und Valerio Olgiati prägten das Ortsbild von Flims, während Peter Zumthors Felsentherme in Vals die Ortschaft am Valser Rhein sofort auf die Landkarte architektonischer Musts setzte. Gion A. Caminadas unauffällige Holzbauten brachten erstmals Kulturtouristen in das abgelegene Bauerndorf Vrin. Entscheidend ist für Caminada das Ineinandergreifen von Dingen, Raumbildung: Wie kann ich die Kraft des Bestandes durch meine Intervention stärken?

Das vom Inn durchflossene Engadin im Osten Graubündens prägte, auch aufgrund seiner verkehrsgünstigen Lage, seit jeher Weltoffenheit. Mehrere Dorfquartiere mit Brunnenplätzen kennzeichnen die Engadiner Haufendörfer. Nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs entstand eine städtisch geprägte Wohnkultur. In den Unterengadiner Bauernhöfen mit Wohnhaus, Scheune und Stall unter einem gemeinsamen Dach wurden bei typisierten Grundrissen Reste alter Wohntürme wiederverwendet, die Fenster der inneren Anordnung folgend asymmetrisch in die Fassaden gesetzt. Hier konnte auch zeitgemäßes regionales Bauen ansetzen, mit politischer Unterstützung durch Gemeinden, Kanton und einen progressiv agierenden Heimatschutz.

Das Beherbergen hat hier eine lange Tradition, schon immer waren viele Engadiner Bauern auch Wirte und Fuhrleute. Trotz ihrer frühen touristischen Erschließung haben Orte wie Scuol, Zuoz und das nahe St. Moritz gelegene Samedan ihre geschlossenen Ortsbilder bewahrt. Der Entdeckung einer Mineralheilquelle im historischen Kern von Samedan folgte 2009 der Bau eines Badehauses direkt neben der barocken Dorfkirche. Mit seinen weiß verputzten Mauern, den unregelmäßig in den Fassaden sitzenden Fenstern und dem Prinzip der vertikalen Stapelung unterschiedlich temperierter Beckenräume mit großzügigen Ausblicken auf den Dorfplatz nimmt der Bau der Basler Architekten Miller und Maranta die Proportionalität der umgebenden Bausubstanz auf, ohne seine Entstehungszeit zu verleugnen.

Auch das im 17. und 18. Jahrhundert entstandene Ortsbild von Guarda ist mit seinen charakteristischen halb öffentlichen Zonen und Sitzplätzen neben den Hauseinfahrten von seltener Geschlossenheit. Bemerkenswert ist, dass im 20. Jahrhundert durch mehrere Generationen hindurch die Bürgermeister der Gemeinde Architekten waren. Auch heute leben und arbeiten mehrere Architekten im gegenwärtig rund 200 Einwohner zählenden Ort. Anfang der 60er-Jahre begann eine Restaurierung unter der Leitung des ortsansässigen Planers Iachen Ulrich Könz, ein Konzept für die Dorfbildplanung kam vom renommierten Architekten Robert Obrist. Autos bleiben auf dem Parkplatz vor dem Ortseingang, das Dorfzentrum prägen öffentliche Räume mit Brunnen und Bänken, die nicht malerischen Konzepten, sondern den gewachsenen Traditionen der eidgenössischen Gesellschaft entspringen.

Heute lebt Guarda neben Landwirtschaft und Kleingewerbe auch vom Tourismus. Die Architekten Urs Padrun und Roger Vulpi bauen leer stehende Heuställe zu Ferien- und Dauerwohnhäusern aus. Zweitwohnsitz-Ghettos vermeidet die Gemeinde, die auch über eine dreiköpfige Baukommission verfügt, zugunsten dauerhaften Zuzugs, indem sie günstig Bauland an Zuzügler verkauft. Bauarbeiten müssen primär an ortsansässige Firmen vergeben werden, auch sprachliche Integration ist im rätoromanischen Dorf erwünscht. Die Stiftung „Pro Guarda“ setzt sich für denkmalpflegerischen Substanzerhalt in Verbindung mit verträglichem, nachhaltigem Tourismus ein. Ein jüngst von der Stiftung angekauftes leer stehendes Bauernhaus soll als „Chasa Guarda“ Wohnraum und Veranstaltungsflächen für Einheimische und Besucher bieten.

Wie in Guarda war auch in Vnà die Bevölkerungszahl, ausgedünnt durch Überalterung und Abwanderung, zwischenzeitlich stark gesunken, zuletzt von 200 auf 70. Schule, Geschäfte und Gasthaus waren geschlossen, als die Kulturmanagerin Urezza Famos ihr Konzept entwickelte, das wiederbelebte Gasthaus zum Zentrum eines dezentralen Dorfhotels zu machen. Im Stiftungsrat der 2004 gegründeten „Fundaziun Vnà“ saßen neben Landwirten auch Architekten und Künstler, Präsident der Stiftung wurde wie Famos' Lebensgefährte, der Kurator und Architekt Christof Rösch. Gemeinsam mit dem Basler Architekten Rolf Furrer baute Rösch das Gebäude aus dem 17. Jahrhundert so für die neuen Bedürfnisse um, dass Veränderungen äußerlich nur punktuell sichtbar wurden. Das neue „Piz Tschütta“ erhielt eine schlichte, moderne Gaststube und ein Kaminzimmer, in den beiden „Stübli“ blieben die alten Holzvertäfelungen. Die Innenräume wurden weiter gemacht und Flure mit Aufenthaltsbereichen und offenen Kaminen geschaffen. Man reinigte die rohen Lärchenböden und beließ die alten Fenster, den alten Putz, die alte Dachdeckung. Aber was neu gemacht wurde, durfte dies auch zeigen. In die benachbarte Scheune stellten Rösch und Furrer, einen Glasquader, der weitere Zimmer aufnimmt. Die zehn Gasträume des „Piz Tschütta“ ergänzen externe Privatzimmer im Dorf, deren Gäste die Hotelinfrastruktur mitnutzen.

Der Partizipationsprozess verlief auch hier nicht ohne all jene Konflikte, die das Basisdemokratische dörflicher Strukturen mit sich bringt. Immerhin: Die von der Streichung bedrohte Buslinie nach Vnà verkehrt jetzt wieder stündlich. Jüngst hat sich die Zürcher Galeristin Eva Presenhuber von den Architekten Andreas Fuhrimann und Gabrielle Hächler ein nicht unumstrittenes Beton-Ferienhaus bauen lassen, das die Prinzipien der alten Häuser in zeitgenössischer Form aufnimmt. Im benachbarten Tschlin wird von der Gemeinde unterstützt, wer Häuser im Ortskern kauft und renoviert – darunter auch die polnische Milliardärin und Mäzenin Grazyna Kulczyk. Ein spektakuläres 18-Millionen-Franken-Hotelprojekt von Peter Zumthor lehnte die Gemeindeversammlung dann aber doch lieber ab. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.01.2012)

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