Betreten geboten

Würdig erinnern und zugleich einen öffentlichen Raum für alle schaffen: Ob dieses Konzept gelingen kann, wird am „Gedenkort Turnertempel“ in Wien zu überprüfen sein.

Vor einem halben Jahr noch war an der Ecke von Turnergasse und Dingelstedtgasse eine mit einem niedrigen Zaun umgrenzte Grün fläche mit ein paar Bäumen und einem Hinweis, die Grünfläche sauber zu halten. Verlegenheitsgrün, ohne Anmut, funktionslos, nicht betretbar und gerade dazu gut, im dichtverbauten Grätzel für ein wenig Freiraum zu sorgen. Es bedurfte schon eines besonderen Forscherdrangs, die schlichte Tafel auf dem angrenzenden Gemeindebau zu entdecken, die auf die ehemalige Existenz einer Synagoge anstelle der Grünfläche und deren Zerstörung in der Reichspogromnacht hinwies. Das abschließende "Niemals vergessen" wirkte angesichts der Unsichtbarkeit der Inschrift wie eine leere Formel.

Erst als ausgehend vom Interesse an der Geschichte des Gebäudes ihres Arbeitsplatzes in der Herklotzgasse 21 vor ein paar  Jahren eine Gruppe von Menschen ein umfangreiches Forschungsprojekt startete, wurde die Geschichte der Juden im 15. Wiener Gemeindebezirk und damit auch der Ort, an dem die Synagoge stand, zum Thema. Unter dem Titel "Das Dreieck meiner Kindheit" haben Michael Kofler, Judith Pühringer und Georg Traska in einer Ausstellung und einem begleitenden Buch (Mandelbaum Verlag, 2008) sichtbar gemacht, was im kollektiven Gedächtnis der Stadt und des Bezirks verdeckt war. Ihnen ist der Anstoß dazu zu verdanken, dass die städtische "Kunst im öffentlichen Raum GmbH" fünf Teams aus Künstlerinnen und Landschaftsarchitektinnen zum Wettbewerb für einen Erinnerungsort lud. Das Siegerprojekt des Künstlerduos Iris Andraschek/Hubert Lobnig und der Landschaftsarchitekten Maria Auböck/János Kárász verkörpert einen neuen Typus von Gedenkstätte, dem Verschämt- wie Unverschämtheit banaler, über den Charakter einer Pflichtübung nicht hinauswirkenden Gedenktafeln ebenso fremd sind wie Pathos.

Die "Turnertempel" war ein wichtiges Identifikationsprojekt der Kultusgemeinde Sechshaus. Sein Architekt Karl König war Schüler und Mitarbeiter von Friedrich von Schmidt, Assistent von Heinrich von Ferstel an der Technischen Hochschule, deren Rektor er später wurde. Die 1872 fertiggestellte Synagoge war sein erstes eigenes Gebäude und wäre heute ein wichtiges Baudenkmal des Historismus. Im Morgengrauen des  10. Novembers 1938 wurde der Tempel von SS-Mitgliedern in Brand gesetzt. Im Mai 1940 ging die Liegenschaft durch "Arisierung" an einen in der Nachbarschaft wohnhaften Transportunternehmer, der dort eine Garage errichtete. Das Rückstellungsverfahren endete 1950 mit einem Vergleich. Kurz darauf wurde die Garage um eine Tankstelle erweitert. 1973 erwarb die Gemeinde Wien das Grundstück, es folgten siebengeschoßiger Gemeindebau, Abstandsgrün und Gedenktafel. Die notorischen Geschichtsverdreher lassen sich weder durch den Geschichtsunterricht noch von Tafeln und Denkmälern beeindrucken, das ist immer wieder aufs Neue widerlich, aber Realität. Für die Menge derer, die ihnen aus Gedankenlosigkeit auf den Leim geht, ist jeder Versuch der Aufklärung nicht vergebens und eine entsprechende Erinnerungskultur von ungebrochener Notwendigkeit. Nach einer Form, in der dies sinnvoll - und vor allem für ein breites Segment an Rezipienten - geschehen kann, haben Andraschek/Lobnig und Auböck/Kárász mit ihrem Wettbewerbsbeitrag gesucht. Es sollte kein "Mahnmal" werden, sondern ein Ort der Erinnerung, der auch im Alltag nutzbar ist.

Wesentliches Gestaltungselement sind Balken aus schwarz eingefärbten Betonfertigteilen mit der Struktur einer Holzmaserung, die an den verbrannten und eingestürzten Dachstuhl der Synagoge erinnern und die in ihren Dimensionen etwa jenen der realen Balken entsprechen. Sie liegen entweder bündig im sandfarbenen Stabilizer-Belag - einer gebundenen, sickerfähigen Oberfläche - oder ragen teilweise oder bis zur Gänze darüber heraus. Sie bilden Wegführungen und Plätze aus, sind selbst begehbar und können als Sitzgelegenheit dienen. Sie durchschneiden auch noch die oberste der beiden Stufen aus hellem Beton, die den Platz vom Gehsteigniveau abheben, und verzahnen damit den Platz mit dem Umfeld. Einen barrierefreien Zugang gibt es über eine Rampe entlang der Feuermauer des angrenzenden Hauses in der Dingelstedtgasse. Sechs bestehende Lindenbäume wurden in die Gestaltung integriert. Erst beim Durchwandern der Anlage fallen die wie beiläufig in den Boden eingelassenen Mosaike auf. Mit ihren Darstellungen von Lebensmitteln erinnern sie an Mosaikreste, wie wir sie aus frühchristlicher Zeit oder den Ausgrabungen in Pompeji kennen. Feigen, Oliven, Datteln sind erkennbar, Überreste eines Festmahls vielleicht, aber auch eine Dose eines bekannten Energydrinks, Obst in einem Plastiksackerl oder Kerne in einem Becher. Es sind Früchte aus südlichen Gefilden, die in der Thora erwähnt werden und im jüdischen Jahreskreis eine Rolle spielen, es sind aber auch Lebensmittel, die den heute in der Umgebung wohnhaften Migranten aus ihrer Heimat vertraut sind und auch längst Eingang in den Speiseplan autochthoner Wiener gefunden haben. Die Geschichte der Synagoge und der hier von den Nazis - unter dem Beifall der nichtjüdischen Nachbarn - vollbrachten Gräueltaten wird auf einer Tafel nächst der Rampe erklärt.

Der Platz animiert zum Betreten und Benutzen ebenso, wie er zum Innehalten und Gedenken einlädt. Er ist niederschwellig, weil zitathaft Gegenständliches wie die Mosaike und die Holzbalken neugierig machen und im besten Fall auch bislang Ignorante oder Unwissende dazu veranlassen, sich eingehender mit dem Sinn des Kunstwerks und der Geschichte des Ortes zu befassen. Was den Leuten gefällt, ist oft schwer mit den aktuellen Konventionen der Kunst in Einklang zu bringen. Ein hoher Grad an Abstraktion ist vielen nicht zugänglich, Pathos nicht mehr opportun, die Gefahr in Banalität und Kitsch abzugleiten groß. Dass in der Turnergasse ein Ort des Gedenkens, der das Geschehene mit Nachdruck vor Augen führt, zugleich ein Ort der Identifikation für die Anrainer geworden ist, hat auch damit zu tun, dass sich die vier Autoren offensichtlich mit dieser Problematik befasst haben. [*]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.02.2012)

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