Draußen an der U-Bahn

Die Peripherie als Chance, Stadt neu zu denken: Ein Wohnhaus im 22. Wiener Gemeindebezirk beweist, wie spannend es sein kann, unter der Brücke zu wohnen.

Verkehrsgünstig gelegen: In der Sprache der Immobilienmakler ist diese Formulierung ein beliebter Euphemismus für das Wohnen an Bahntrasse oder Autobahn. Auf den ersten Blick scheint auch das Grundstück an der Mühlgrundgasse im 22. Wiener Gemeindebezirk in diese Kategorie zu fallen. Es liegt direkt neben der in Hochlage geführten U-Bahnlinie U2, unweit der Stelle, an der die Autobahn nach dem Knoten Kaisermühlen kurz parallel zum Gleiskörper der Laaer Ostbahn verläuft.

Der Stadtplan ist hier geprägt von den Kurven dieser Verkehrssysteme, die mit Radien von mehreren Hundert Metern ihrer eigenen Logik folgen. In sie eingebettet, finden sich andere Strukturen, kleinteilige Raster von Einfamilienhaussiedlungen, Wohnhausscheiben der Nachkriegszeit, Hofhäuser und Teppichsiedlungen der 1980er-Jahre neben Großformen wie dem Sozialmedizinischen Zentrum Ost. Es ist typisch für die Wiener Stadterweiterungsgebiete, dass diese Strukturen einander weitgehend ignorieren. Manche Stadtplaner nennen das Ergebnis liebevoll „Patchwork-City“ und übersehen dabei, dass ein Patchwork ohne Nähte in zusammenhanglose Teile zerfällt.

Wie viel Spannung entsteht, wenn man die Nahtstelle zwischen unterschiedlichen Strukturen artikuliert, zeigt sich dagegen am Wohnbau, den ARTEC – das Team der Architekten Bettina Götz und Richard Manahl – für die Siedlung am Mühlgrund entworfen haben. Als schmaler, knapp hundert Meter langer Riegel folgt er dem Verlauf der U-Bahn, die hier auf zwei Brücken in zwölf Meter Höhe in einer sanften Kurve vorbeifährt. Von der U-Bahnstation sind es nur wenige Schritte, und Besucher, die von dort kommen, laufen auf die Schmalseite des Gebäudes zu, die eher an ein Stück Infrastruktur – etwa eine Trafostation – denken lässt als an ein Wohnhaus: gezackte Kontur, schwarze Industrieverblechung, fensterlos.

Auf der Südseite blitzen allerdings schon andere Materialien hervor, und sobald man um die Ecke biegt und die Südfassade in ihrer vollen Länge erfassen kann, ist klar, dass es sich um einen Wohnbau handelt. Durchlaufende Balkone mit verschiebbaren Sonnensegeln prägen das Bild, an dem allerdings eine leichte Irritation auffällt: alle seitlichen Begrenzungsebenen, also sowohl die Balkonbrüstungen aus Metallgittern als auch die Fassadenebene dahinter, sind aus dem rechten Winkel verdreht. Die Balkonbrüstungen neigen sich nach außen, und die Fassade springt in einer leichten Zickzacklinie vor und zurück. Beides hat durchaus praktische Vorteile. Ein guter Balkon muss tief genug sein, um einen Tisch aufstellen zu können, aber nicht so tief, dass er die Räume dahinter zu sehr verschattet. Statt ein Kompromissmaß anzubieten, sind die Balkone hier vor den Wohnräumen tief und verjüngen sich dann kontinuierlich, sodass in die Schlafräume noch viel Licht fallen kann. Auch die geneigten Brüstungen machen den Balkon dort breiter, wo es die Nutzer tatsächlich brauchen.

Wie bei jeder guten Architektur gibt es aber, untrennbar mit solchen pragmatischen Aspekten verbunden, einen formalen Aspekt, der eigenen Regeln gehorcht, die keine rationale Begründung brauchen. Aus dieser Perspektive darf man das Bauwerk durchaus mit Kunstwerken wie der berühmten „endlosen Säule“ des Bildhauers Constantin Brancusi vergleichen, die eine ähnlich gezackte Kontur aufweist. Am deutlichsten wird diese skulpturale Wirkung auf der Nordseite, wo das Gebäude tatsächlich als große Skulptur erscheint, ein schwarzer Monolith, der sich wie eine gespannte Sehne in den leichten Bogen der U-Bahntrasse hineinschiebt.

Hinter dieser schwarzen Wand verbirgt sich einer der schönsten Innenräume, die im Wiener Wohnbau in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. Er ist tatsächlich ein Meisterwerk von ARTEC, in dem viele Prinzipien ihrer bisherigen Arbeit elegant und scheinbar mühelos umgesetzt sind. Wer die Zwänge kennt, denen der soziale Wohnbau heute ausgesetzt ist, weiß, wie viel Knochenarbeit dahintersteckt, um eine solche Detailqualität zu vertretbaren Kosten zu erhalten. Als Verschärfung kam noch hinzu, dass es sich bei diesem Projekt um ein Passivhaus handelt, mit Anforderungen an die Dichtigkeit der Gebäudehülle, die bei diesen speziellen Geometrien eine besondere Herausforderung darstellt. In Abstimmung mit dem Bauträger, der BUWOG, wurden die Leistungen zuerst nach Gewerken ausgeschrieben, um die Kosten möglichst exakt bestimmen zu können, und erst danach an einen Generalunternehmer beauftragt.

In der Erschließungshalle wird sofort klar, dass die Zickzacklinie der Gebäudehülle im Innenraum eine völlig andere Wirkung entfaltet als von außen. Das liegt nicht nur an der Farbkombination von Gelb und Grün, sondern vor allem daran, dass sie hier nicht als Körper erscheint, sondern als leichte, raumbegrenzende Membran. Die inneren Laubengänge sind keine reinen Verkehrsflächen, sondern vor den Eingängen zu den Wohnungen auf die doppelte Breite erweitert. Hier werden sich die Bewohner gerne aufhalten und sich über das Gedeihen ihres privaten Dschungels austauschen: In mächtigen Betontrögen, die in der Erschließungshalle schweben, haben die Landschaftsarchitekten Maria Auböck und János Kárász zahlreiche exotische Pflanzen eingesetzt, die gerade beginnen, eine vertikale Landschaft zu bilden.

Man darf über das Wohnhaus von ARTEC nicht berichten, ohne es als Teil eines Ensembles zu besprechen, zu dem – nach einem Bebauungsplan der Architekten Henke und Schreieck – eine niedrigere Bebauung gehört, die in drei Teilen nach Entwürfen von Hermann Czech, Adolf Krischanitz und Werner Neuwirth entstanden ist. Deren raffiniert zugeschnittene Wohnungen eignen sich durch das Kombinieren von kleineren Einheiten gut für das Zusammenleben mehrerer Generationen. Vom Wohngefühl her könnte der Kontrast zwischen diesen Beinahe-Einfamilienhäusern und dem Wohnregal von ARTEC kaum größer sein. Gerade darin liegt die Chance des Städtebaus an der Peripherie: nicht alte urbane Muster zu kopieren, sondern aus scheinbaren Widersprüchen Symbiosen zu erzeugen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2012)

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