Papier hat viele Seiten

Der Autor und Journalist Lothar Müller legt mit „Weiße Magie“ ein Buch über die „Epoche des Papiers“ vor. Auf 384 Seiten bietet er eine Wirtschafts- und Kulturgeschichte des Stoffs, der noch heute unseren Alltag prägt.

Papier in allen Erscheinungsformen bestimmt unsere Geschichte seit Jahrhunderten und begleitet unseren Alltag von früh bis spät. Morgens greifen wir zum Klopapier an einem der Ab-Orte des Lebens. Damit befinden wir uns, folgen wir Lothar Müllers Kulturgeschichte des Papiers, gleich in der hohen Literatur, wenn auch in „dem niederen Register des Schelmenromans“, überblendet doch Grimmelshausen im „Simplicissimus“ in einem „skatologischen Papier-Exkurs Scheißhaus und Kanzlei, Entleerungssitzung und Gerichtssitzung“.

Der Literaturwissenschaftler und Journalist Müller erzählt in seiner „Weißen Magie“ nicht nur die Geschichte der Phasen der Papierproduktion und -distribution, sondern auch des Papiers als Thema in der Belletristik von Rabelais, Cervantes, Balzac, Melville bis James Joyce und Rainald Goetz. Mit Leopold Bloom, der „gern beim Stuhlgang“ las, kehren wir leicht zum Abort zurück– es sei nur angemerkt, dass Zeitungspapier in ärmeren Zeiten nicht bloß zum Lesen verwendet wurde.Verlassen wir lieber diesen Ort (an dem in Österreich pro Kopf ca. 10 kg Klopapier verbraucht werden) und gleich das Haus. Die grünen Tonne mit dem roten Deckel im Flur zeigt uns drastisch, dass auch Papier den Weg allen Vergänglichen nimmt. Gehen wir ins Kaffeehaus, wo wir die Zeitungen lesen, zum Gebäck eine Papierserviette bekommen, der Zucker steckt in dünnem Papier, am Ende wird die Rechnung auf Papier präsentiert. Später im Büro ist das Papier ebenfalls allgegenwärtig, das papierlose Büro ist auch im Zeitalter des PC nur eine Fiktion.

Müller beschreibt, wie am Ende der 1960er-Jahre bei den Wertpapierhändlern an der Wall Street der „Pegel der Papierfluten“ stieg, da „das Tempo der Börse von der hochgerüsteten Telephonvermittlung beschleunigt wurde“: „Die Datenverarbeitung blieb hinter dem Tempo und Umfang der Datenübermittlung dramatisch zurück.“ Wer dann bei der „einsetzenden Welle der Computerisierung nicht mitgemacht hatte, sah schlechten Zeiten entgegen.“ Das Papier als Speicher- und Zirkulationsmedium wurde durch den Computer nicht abgeschafft, vielmehr befinden sich beide (noch) in einem Stadium der Koexistenz und Kooperation – eine perfekte Arbeitsteilung.

Den Produzenten war die „Flut“ nur recht. Denn Papier – vom Druckpapier zum Verpackungskarton, vom Hygiene- bis zum Geschenkpapier – ist schon lang kein knappes Gut mehr. (Allerdings: Werden bei uns mehr als 225 kg Papier pro Kopf im Jahr verbraucht, sind es in Afrika nur 6 kg.) Anders als im 19. Jahrhundert, als sich mit dem Aufkommen von Tageszeitung und Massenpresse der Rohstoffmangel verschärfte. Die bis dahin für die Produktion verwendeten Hadern und Lumpen reichten nicht mehr aus, auch wenn anfangs der Rohstoffnachschub noch gewährleistet werden konnte, „weil die Kleider häufiger gewechselt wurden“. Mit der von Friedrich Koenig entwickelten Schnellpresse und der bald darauf auf den Plan tretenden Rotationspresse, wurde die Gutenbergsche Drucktechnik endgültig revolutioniert. Doch um den immer gefräßigeren Druckmaschinen die nötige Nahrung zuzuführen, musste in der Papierproduktion erst der auch aus Holz gewonnene Zellstoff entwickelt werden.

Müller beschreibt diesen Prozess als packende Geschichte: „Aus forstwirtschaftlicher Sicht füllte die Papierindustrie die Lücke, die durch den Rückzug der traditionellen Holzabnehmer entstanden war.“ Holz wurde als Brennstoff durch Kohle, im Bauwesen durch Eisen und Stahl ersetzt. War das Lumpensammeln an die städtische Zivilisation gebunden, gewannen „mit der Umstellung auf Holz- und Zellstoff die menschenarmen, aber waldreichen Gebiete Nordamerikas und Nordeuropas rasch an Bedeutung.“

Nicht nur für Büroalltag und Massenpresse wurde immer mehr Papier benötigt, auch die Buchproduktion erreichte neue Dimensionen, was sich wiederum auf die Literatur selbst auswirkte: „Die Papiermaschine trug dazu bei, dieses Verhältnis von Poesie und Prosa umzukehren.“ Am Beispiel des Papiers wird nicht nur ein Kapitel aus der Wirtschaftsgeschichte, sondern auch eines der Literaturgeschichte erzählt. Ein Kronzeuge ist dabei Honoré de Balzac, der immer wieder das Medium Papier und dessen Bedeutung thematisierte. Im Roman „Verlorene Illusionen“ hält einer der Hauptfiguren, ein gelehrter junger Drucker, seiner künftigen Frau „unter den Rädern einer Papiermühle“, wie Müller schreibt, eine „papierhistorische Vorlesung“ mit einer kulturpessimistischen Prognose – : „Die Hemden und die Bücher werden nicht mehr von Dauer sein, das ist alles.“ So wird dem Dichter Lucien, eine Lektion erteilt: „Er muß lernen, daß der Dichter kein höheres Wesen ist, sondern ein Marktteilnehmer und die Literatur eine Ware wie jede andere auch.“

Müller warnt davor, aus „der Unverzichtbarkeit der elektronischen Speicher die Verzichtbarkeit des Papiers“ zu folgern. Möglich, dass dem gedruckten Buch „im Kontrast zum elektronischen Buch die Aura zuwächst, das Originalformat zu sein.“ Seine Kulturgeschichte bietet eine überbordende Fülle an Informationen über ein so viele Funktionen erfüllendes Material, das als Papyrus und Pergament aus China über Arabien nach Europa kam und von hier aus die Welt eroberte. Die schwarze Kunst des Buchdrucks benötigt die weiße Magie des Papiers als Unterlage ebenso, wie wir zum besseren Verständnis des „Gutenberg-Zeitalters“ mehr Wissen über die Epoche des Papiers als Hintergrundwelt benötigen.

Kehren wir noch einmal an einen anderen Ab-Ort und zur Tatsache zurück, dass Papier als Altpapier sich gleichsam auch aus sich selbst produziert, und überlassen wir den sich diesmal auf Charles Dickens beziehenden Autor das letzte Wort: „Knochen, Alteisen, ausrangierte Küchengeräte werden hier angekauft und wegen seiner anwachsenden Massen hat es das Altpapier im Lumpenreich zu einer eigenen Rubrik gebracht. (...) Hier sinkt es in die Lumpenwelt zurück, der es entstammt.“ ■




Lothar Müller
Weiße Magie

Die Epoche des Papiers. 384S., geb., €25,60 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2012)

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