Herodot statt Facebook

Es strotzt vor Einfällen und schert sich keinen Deut um aktuelle Moden: Vea Kaisers fulminantes Romandebüt „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“.

Mit Superlativen wird Schindluder getrieben. Blättert man die Kataloge der Verlage durch, findet man kaum einen Autor, der nicht zu den größten, bedeutendsten, wichtigsten Schriftstellern unserer Zeit gehört. Und viele Kritiker versuchen, sich selbst aufzuwerten, indem sie ihren Gegenstand überhöhen. Wie soll man da eine wirkliche Entdeckung mit Erfolg anpreisen? Man findet sich in der Rolle des Knaben, der immerfort „der Wolf“ schrie, als kein Wolf in der Nähe war. Mit dem Unterschied, dass es das Kollektiv der Rezensenten war, das ohne Grund brüllte undnun den Einzelnen unglaubwürdig macht, der tatsächlich etwas zu melden hat.

Vea Kaiser, 1988 in St.Pölten geboren, hat einen Debütroman von fast 500 Seiten geschrieben. Er strotzt von Einfällen. Der Stoff geht der jungen Autorin nicht aus. Aber das würde nicht reichen. Zur Sensation wird dieser Roman durch die Form, mit der Vea Kaiser die Fülle bändigt, durch die Sprache, die eine fleißige Leserin, eine studierte Kennerin der lateinischen und griechischen Überlieferung und ein Original verrät, das sich keinen Deut um aktuelle Moden schert. Das Buch mit dem einerseits irritierenden, andererseits altmodisch anmutenden Doppeltitel „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ enthält Literatur im emphatischen Sinne.

Die Berge stehen nicht nur im Titel. Das Bergdorf St.Peter am Anger ist der Ort der Handlung. Sie setzt im Jahr 1959 ein, kurz bevor Johannes Gerlitzen nach der Geburt seiner Tochter Ilse das Dorf verlässt, um Doktor zu werden. Als er, ein ausgebildeter Arzt, nach Jahren zurückkehrt, beobachtet er das Heranwachsen des Jungen Alois Irrwein. Die beiden mögen sich nicht. Umso mehr mag Ilse den rebellischen und fantasiebegabten Alois mit dem sprechenden Familiennamen. Ilse und Alois heiraten. Wir schreiben inzwischen das Jahr 1982. Zehn Jahre später bekommt Ilse das lang ersehnte Kind. Es wird nach dem Großvater Johannes genannt. Johannes A. Irrwein steht nun im Mittelpunkt der verbliebenen vier Fünftel des Romans. Mehr und mehr wird er nach dem Tod des Großvaters zu einem Grübler, einem Sonderling. Die Bemühungen seiner Eltern, ihn zu einem St. Petrianer zu machen, bleiben ohne Erfolg. Er kommt in die Klosterschule in Lenk im Angertal und begeistert sich für Herodot, den er schon durch seinen Großvater kennengelernt hat. Sein anfängliches Interesse für die Naturwissenschaften lässt nach, aber er will „Forscher werden und hinaus in die große Welt gehen, von der ihm Doktor Opa immer so viel erzählt hat“. Der Leitspruch, der ihn durchs Leben begleitet, lautet: „Es ist egal, woher du kommst. Es zählt nur, was du aus dir machst.“

In der Matura legt sich Johannes mit seinen Prüfern an, als es um den Status, den Wahrheitsgehalt der Geschichtsschreibung geht, und fällt prompt durch. Diese Szene gehört zu den eindrucksvollsten des Romans und ist für ihn charakteristisch in der Ambivalenz zwischen Komik und tiefem Ernst. Johannes entgegnet seinen Widersachern, die seine Herodot-Interpretation in Zweifel ziehen: „Ich hab die Historien zwanzig Mal gelesen und kann die Passage sogar auf Griechisch rezitieren. Und wenn Kopernikus nachgegeben hätte, als man ihm die Folter androhte, weil er nicht davon abwich, dass die Erde rund sei, dann wären wir jetzt noch im Mittelalter!“

Das Pathos dieser Replik beeindruckt die Gymnasiallehrer nicht. Sie müssen, sagen sie, „disziplinäre Umstände bei der Beurteilung der Prüfung miteinbeziehen“. Der junge Mann ist vernichtet. Seine Lebensträume haben sich in Luft aufgelöst. Nun ist er in St. Peter, diesem Dorf der Bergbarbaren, gefangen. Von hier schreibt er lange Briefe an die älteren Freunde vom Digamma-Klub über alles, was er hier beobachtet, was ihm zustößt. Zu den Reizen des Romans gehört es, dass Vea Kaiser in der Schwebe lässt, ob das Landleben tatsächlich nur aus Idiotie, aus fehlender Zivilisation besteht oder ob das die Perspektive eines arroganten, sich überschätzenden Strebers ist. Sie verteilt ihre leise Ironie auf beide Seiten. Sie betrachtet die dörflichen Traditionen mit einem ethnologischen Blick und setzt zugleich den Ethnologen möglichem Spott aus. Dieser Johannes A. Irrwein hat etwas von einem modernen Don Quijote. Mit dem Helden von Cervantes verbindet ihn, dass er seine Welterfahrung aus Büchern bezieht.

Mit der lebhaften, nur in vorsichtigen Dosen humorvollen, jedenfalls nicht nach Pointen schielenden Erzählersprache kontrastieren archaisierende Einschübe, die in Paragrafen eine Art Parallelgeschichte erzählen – wir verstehen nach und nach: Es sind die späteren Aufzeichnungen des Chronisten Johannes A. Irrwein – und Dialoge im Dialekt. Sie fügen Kolorit hinzu, und man muss dem deutschen Verlag dankbar sein, dass er das der Jungautorin durchgehen ließ.

Die Gattung des historischen Romans greift in der Regel weit in die Vergangenheit zurück. „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ könnte man paradox als historischen Roman aus der Gegenwart kennzeichnen. Von einer Matura im Jahr 2010 schreibt die Erzählerin, sie habe „zu jener Zeit“ aus zwei Fragen pro gewähltes Fach bestanden. In seiner epischen Breite, seinem Figurenreichtum und der Liebe zum Detail liefert „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ in der Tat das Bild einer Epoche. Nur ist es eben die Epoche, die ein großer Teil der Leser miterlebt hat.

„Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ ist ein Roman über den Gegensatz von Stadt und Land, von „Zivilisation“, oder was viele dafür halten, und „Barbarei“, aber es ist auch ein Roman über einen Außenseiter, einen Spinner, der sich nicht anpassen will, der Facebook und Twitter natürlich ebenso ablehnt wie Skype und Mobiltelefon – und das macht ihn wiederum sympathisch. Vor allem aber ist „Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ eine süffige Lektüre. Gern griffe man zu einem Superlativ. Aber wer nimmt einem den noch ab? Im Titel des drittletzten Kapitels taucht endlich das Wort auf, nach dem wir die ganze Zeit gefahndet haben: „Blasmusikpop“. Es bezieht sich auf eine Blaskapelle, die in der Flutlichtanlage des Fußballplatzes von St.Peter das Liebeslied „Ein Kompliment“ der Sportfreunde Stiller spielt. Darauf muss man kommen. ■

Geboren 1942 in Glasgow. Aufgewachsen in Wien. Dr. phil. Literaturwissenschaftler an der Universität Stuttgart. 1992 Österreichischer Staatspreis für Literaturkritik. Bücher: „Alles Lüge. Das Ende der Glaubwürdigkeit“, „O Gerechtigkeit. Ein Essay über Verteilungsgerechtigkeit, Neid, Rache, Terror, Kompromiss und die Sozialdemokratie“ (Promedia, Wien).



Vea Kaiser
Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam

Roman. 492S., geb., €20,50 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2012)

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