Der Kaiser ist nackt – und niemand sieht's

Ingo Schulze erklärt märchenhaft Europa. Eine Entlarvung.

Was nützt der schönste Kapitalismus, wenn die Freiheit, die versprochene, nur in einer freien Wahl der Produkte besteht, die man kaufen kann?“ So fragt die ehemalige DDR-Dissidentin Sibylle Berg in ihrem neuen Roman „Vielen Dank für das Leben“. Das könnte als Motto für die Rede „Unsere schönen neuen Kleider“ des ehemaligen DDR-Bürgers Ingo Schulze dienen. Sein Plädoyer für „demokratiekonforme Märkte“ anstatt der „marktkonformen Demokratie“, wie Angela Merkel den Status quo auf den Begriff brachte, ist der Versuch einer literarischen Erklärung dafür, warum wir uns diese Pseudofreiheit gefallen lassen.

„Entstehung demokratisch nicht legitimierter Institutionen, Aushebelung parlamentarischer Prozesse, Entzug staatlicher Souveränität, Beschneidung zukünftiger Handlungsmöglichkeiten durch Staatsverschuldung, Ideologisierung ökonomischer Prozesse, Sprachverkleisterung“ – was sich wie eine Beschreibung des „Systems Kärnten“ liest, ist tatsächlich ein Sündenregister des gegenwärtigen Europas. Kärnten hat Europa zur Kenntlichkeit entstellt. Inzwischen hat das bei manchen Wut ausgelöst, bei wenigen Mut, bei etlichen Frust, bei einer Vielzahl der Bürger aber nur Gähnen. Warum ist das so?

Als Schriftsteller nimmt Ingo Schulze die Literatur als Erklärungshilfe. Wie so ein Machtsystem funktionieren kann, ist auf wenigen Seiten bei Hans Christian Andersen nachzulesen, und zwar im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Zwei sympathische Betrüger schaffen es darin, ein ganzes Staatsgefüge auszuhebeln, indem sie ein System von Abhängigkeiten schaffen. Sie versprechen (dem Kaiser) nicht besonders prächtige Kleider, sondern wunderbare Eigenschaften des Gewandes, die ihm die Macht erhalten: Die Kleider sind für jeden unsichtbar, der nicht „für sein Amt taugt“ oder der „unverzeihlich dumm“ ist. Was sie versprechen gab es zwar noch nie und kann es eigentlich auch nicht geben. Doch keiner will vor dem anderen als unfähig oder blöd dastehen – und schweigt; wider die Offensichtlichkeit der Nacktheit. Das ist das Prinzip.

„Andersen beschreibt, wie die Lüge – wohlkalkuliert und selbstbewusst vorgetragen – gegen alle Erfahrung und Wahrscheinlichkeit, auch gegen jeden Augenschein und jede Nachprüfbarkeit von einer ganzen Gesellschaft Besitz ergreift“, resümiert Schulze. Und das in der angeblich so rationalen westlichen Welt mit ihrer moralischen Hegemonie. Auf einer ganzen Zeitungsseite verteidigt nun Henryk M. Broder in der Literaturbeilage der „Welt“ ebendiese Welt gegenüber Schulzes schmalem Bändchen. Tatsächlich hat der Literat darin den Fehler begangen, sich außerhalb der Literatur auf das Feld der (ökonomischen) Statistik zu begeben. Wer sich aber in die Wüste der Zahlen begibt, kommt darin um. Da fegt der Sturm der Manipulation über die Zifferndünen und begräbt sämtliche Pflänzchen der Erkenntnis unter sich.

Deshalb stellt der kluge dänische Dichter Andersen ja auch ein naives Kind ins Zentrum der Aufklärung. „Aber er hat ja gar nichts an!“, lässt er den Bann der Lüge nicht von hyperintelligenten Zahlenjongleuren brechen, sondern vom arglosen Blick eines Kindes auf die Wirklichkeit. Dass der Kaiser nackt ist, dabei hätte es Ingo Schulze belassen sollen. In dem Augenblick, in dem er sich unter anderem auf Jean Zieglers Zahlenwerke als Argumentationshilfe beruft, ist es für Broder ein Leichtes, ihm in die Parade zu fahren, weil – wie Broder selbst sagt – „man mit einer Statistik alles beweisen kann, auch das Gegenteil“. Auf diesem Feld kann ein denkender Mensch gegenüber einem rechnenden Menschen nur verlieren.

In seiner eigenen Kunst ist ein guter Autor stets klüger denn als Referent und Interpret von (Geld-)Summen, die sich nicht einmal die vorstellen können, die sie erhoben haben. Schulze weiß das. Über das Versprechen der Betrüger bezüglich der Eigenschaften der Kleider des Kaiser notiert er: „Hat man dieses Versprechen erst einmal verinnerlicht, ist es nicht mehr wichtig, die Welt zu betrachten“ (was Aufgabe des Autors ist). „Es geht nur noch darum, den Beobachter der Welt zu beobachten und zu bewerten.“

Leider ist er in diesem Essay passagenweise in diese Falle getappt. Trotzdem ist es mehr als ein Untergriff, wenn Broder ihm am Schluss seines Artikels – wie weiland Reich-Ranicki seinem Kritiker Martin Walser – nahelegt, mit dem Schreiben aufzuhören. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2012)

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