Brack und Schlick

Das riesige Gebiet des Niger-deltas ist ökologisch ruiniert. Pipelines ziehen sich endlos durch übel riechende und ölgesättigte Erde. Marodierende Soldaten massakrieren die Bewohner. „Öl auf Wasser“ – Helon Habilas beklemmender Roman zwischen Reportage und Thriller.

Das Delta des Niger, in dem der afrikanische Fluss ungeheure Wassermassen in den Atlantik rollt, ist 200 Kilometer breit und ökologisch völlig ruiniert. In der Region mit ihren Sumpfwäldern, Inseln, Flussarmen, Tausenden Dörfern und wenigen großen Städten leben 30 Millionen Menschen, deren Lebenserwartung seit Jahrzehnten stetig sinkt. Ihr Elend gründet im Reichtum, denn im Nigerdelta sprudelt das Öl, über zwei Millionen Fass täglich bauen Shell, Chevron, Total und andere Konzerne ab. Sie haben ein Gebiet von der Größe Nieder- und Oberösterreichs mit einem Netz aus Bohranlagen, Pipelines und Abgasfackeln überzogen, die alle Tage brennen und ihr tödliches Gift ungefiltert in die Luft schleudern. Aus beschädigten Pipelines fließt unablässig Öl in den Fluss, den ein schwarzer Teppich überzieht, unter dem alles Leben erstickt ist. Im Nigerdelta herrscht die Apokalypse, denn die Konzerne, an deren Zapfsäulen wir alle Tage das Benzin in die Tanks unserer Autos füllen, haben ihre Bohrtürme errichtet, wo immer es ihnen günstig erschien, mitten in der Lebenswelt von Millionen, die unter den Schwaden giftiger Abgase, in den Tümpeln ausgelaufenen Öls, in Dörfern aus Brack und Schlick leben müssen.

Die Ölkonzerne würden den Stoff, mit dem sie uns versorgen, nicht auf diese verbrecherische, Mensch und Umwelt schädigende Weise fördern können, wenn sie nicht zuverlässige nigerianische Kollaborateure hätten. Nigeria könnte heute ein wohlhabender Staat sein, aber alles Geld, das mit dem Raubbau an Bodenschätzen erwirtschaftet wird, fließt in die Kassen der zivilen und militärischen Eliten, die sich wechselnde Regierungen halten. Regt sich Widerstand gegen Ausplünderung wie Korruption, wirft die Armee ihn nieder. Der Schriftsteller Ken Saro-Wiwa, der das ökologische Desaster anprangerte und von einem Völkermord an seinem Volk der Ogoni sprach, in dessen Gebiet seit Jahrzehnten Öl gefördert wird, ohne dass es je an den Gewinnen beteiligt worden wäre, wurde 1995 von den Militärs verhaftet und mit acht anderen Bürgerrechtlern gehängt. Der Royal Dutch Shell-Konzern, der das Gebiet der Ogoni verwüstet hat, gilt als Auftraggeber dieses Mordes; er hat kürzlich die Hinterbliebenen der Hingerichteten mit einer beträchtlichen Summe abgefunden, um einem Verfahren, das ein Bezirksgericht in den USA gegen ihn anstrengte, zuvorzukommen.

In dieser Region, in der enorme ökonomische Gewinne erzielt und horrende ökologische Schäden bewirkt werden, spielt der Roman „Öl auf Wasser“. Geschrieben hat ihn der 1967 geborene Helon Habila, ein leidenschaftlich recherchierender Journalist und stilsicherer Erzähler, der Nigeria vor einigen Jahren verlassen hat und seither in den USA lebt. Er erprobt in seinem Buch verschiedene Genres und lässt die Handlung auf mehreren Ebenen spielen.

Zum einen ist „Öl auf Wasser“ eine große Reportage, die ins Herz der Finsternis führt, vorbei an sterbenden Dörfern, deren Bewohner vertrieben wurden oder geflüchtet sind, unter einem Himmel, der nächtens vom Widerschein der brennenden Abgasfackeln erleuchtet ist: „Die karge Landschaft lag unter Pipelines begraben, die aus der übe lriechenden, ölgestättigten Erde trieben und sich in alle Richtungen zogen. Endlos liefen die Röhren über das gespenstische Gelände dahin, übereinander hinweg, untereinander hindurch, miteinander verbunden. Wir gingen landeinwärts, duckten uns unter den riesigen Röhren hindurch und sprangen über sie hinweg; schwarz tränkte das Öl unsere Schuhe und Hosen.“

Zum zweiten ist „Öl auf Wasser“ gewissermaßen der Roman einer Reportage, denn die beiden Hauptgestalten sind ein alter, einst berühmter Reporter, der auf seine letzte Reise geht, und der junge Rufus, der sich eben die ersten Sporen als Reporter verdient und vom Älteren in die Schule des Schreibens genommen wird. Auf dieser Ebene geht es um Fragen wie: Was ist eine „Geschichte“, die aufgeschrieben, was der Kern ihres Geschehens, der freigelegt werden muss? Von Zaq lernt Rufus, dass es selbst bei alltäglichen Vorkommnissen diesen „transzendentalen Augenblick“ aufzuspüren gilt, in dem der Zusammenhang des Ganzen aufleuchtet. Ihn zu erkennen, das zeichnet den bedeutenden Journalisten aus. Das Verhältnis von Schüler und Lehrer kippt nach einiger Zeit, denn Zaq, einst der berühmteste Journalist Nigerias, ist jetzt ein versoffener, vom Tod gezeichneter Alkoholiker, für den Rufus bald weniger Bewunderung, als fürsorgliche Gefühle hegt.

Drittens aber ist „Öl auf Wasser“ ein spannender politischer Thriller, handelt er doch von einem Verbrechen, wie es in Nigeria geradezu alltäglich ist, und von den fortgesetzten Verbrechen, mit denen die Staatsmacht auf dieses reagiert. Isabelle Floode, die unglückliche, betrogene Frau eines Briten, der als leitender Angestellter einer Bohrfirma arbeitet, ist in Port Harcourt, einer Millionenstadt am Rande des Deltas, entführt worden. Derlei geschieht dort häufig, die Entführer sind meist Angehörige einer der vielen, miteinander konkurrierenden Rebellenorganisationen, die sich fantastische Namen wie Free Delta Army oder Black Belts of Justice geben und durch den jahrelangen Kampf gegen das Militär selbst korrumpiert wurden und zu kriminellen Vereinigungen verkommen sind. Wie es üblich ist, sollen Journalisten die Rebellen kontaktieren, sich davon überzeugen, dass es der Geisel gut geht, und so den Tausch von Geld gegen Geisel vorbereiten.

Mit diesem Job werden Zaq, der alte Kämpe des sozialkritischen Journalismus, und Rufus beauftragt, der endlich die große Story schreiben möchte, mit der er berühmt wird. Sie heuern bei einem alten Fischer an und fahren auf dessen Boot in das Delta, durch ein verschlungenes System von Seitenarmen, entlang dichter Mangrovenwälder. Irgendwo liegt eine Insel, auf der sie mit Geisel und Entführer zusammentreffen sollen. Doch als sie anlegen, finden sie die Insel verwüstet, die Armee hat von der Sache Wind bekommen und vorsorglich getan, was sie am besten kann, nämlich ein Massaker unter der ahnungs- und schutzlosen Zivilbevölkerung angerichtet.

Wie Helon Habila solche militärische Kommandounternehmen schildert, das ist gekonnt und gerade deswegen so beklemmend. Wenn sich der militärische Trupp in leisen Kampfbooten über den schwarzen Fluss nähert und die Dorfbewohner alles stehen und liegen lassen, um sich in die Wälder zu flüchten; wenn die verrohten Soldaten das Dorf stürmen, wild in die Luft schießend und mit dem Gewehrkolben auf jeden einschlagend, den sie antreffen – dann gestaltet Habila die Szenerie mit wenigen Strichen, ohne große Worte, doch mit umso größerer Wirkung.

Da die erste Begegnung von Reportern und Geiselnehmern gescheitert ist, fahren Zaq und Rufus immer weiter in das sich unüberschaubar verzweigende Delta hinein, zu Inseln, die auf keiner Landkarte eingezeichnet sind, vorbei an rauchenden Ansiedlungen, die von den Rebellen oder den Soldaten niedergebrannt wurden. Dabei geraten sie zwischen die verfeindeten Parteien, werden abwechselnd von regulären Soldaten und von Guerilleros verhaftet und schikaniert. Was sie schützt, ist ihr Status als Reporter, nicht etwa, weil die einen wie die anderen Respekt vor der freien Presse hätten, sondern weil beide sie brauchen: Die größten Folterknechte der Armee wünschen Berichte zu lesen, in denen ihr Kampf gegen die Terroristen als gerecht und erfolgreich ausgegeben wird; und die ärgsten Kriminellen, die vom Widerstand des Volkes faseln, aber dieses malträtieren, benötigen Reporter, um ihre Forderungen verbreiten zu können.

Aus den Brigaden roher Männer lässt Habila zwei bizarre Charaktere hervortreten: Der eine ist Major der Armee und hält sich Privatgefangene, die er auf seinen Streifzügen mitführt und täglich mit Benzin übergießen lässt, bis er eines Tages das Streichholz, mit dem er spielt, über ihren Köpfen entzünden wird – eine in metaphysischer Unruhe zappelnde Gestalt, so fest in ihrem Wahn verfangen, dass es einen bei der Lektüre schaudert. Gegenspieler des Majors ist der „Professor“, der Kommandant einer Rebellengruppe, der seine Raubzüge und Entführungen mit kuriosen Phrasen „als Feldzug für die Umwelt“ auszugeben versucht. Die beiden sind einander erschreckend ähnlich, der hyperaktive Major und der theatralisch als Intellektueller posierende Gangster. In ihnen, die einander bekriegen und ohne einander nichts wären, wird die Ausweglosigkeit des von der Welt längst vergessenen nigerianischen Bürgerkriegs offenkundig: Es ist immer Krieg im Land, und es gibt viele, die ihm alles verdanken. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2012)

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