Ich ist mein Käfig

Maja Schneilin versteht sich auf die Auslegung theologischer Texte ebenso wie auf die Kon- trolle ihrer Emotionen, deshalb beginnt der in sie verliebte Schriftsteller Basil Schlupp eine „Briefliebschaft“ mit ihr: Martin Walsers gefühlsausführlicher Roman „Das dreizehnte Kapitel“.

Einen „neuen“ Martin Walser besprechen meint stets auch, dem illusionären Anspruch genügen zu wollen, den ganzen Martin Walser ins Auge zu fassen. Denn Walser, dieser immens produktive Altmeister deutscher Prosa, ist immer mehr als nur sein letzter Roman. Man hat sich so seine rezensierenden Gedanken über sein jüngstes Opus gemacht, und schon passiert es: Walser schlägt von anderer, ihm seit Anbeginn hauseigener politischer Seite zu; so geschehen dieser Tage mit seiner furiosen Intervention in Sachen Eurokrise.

„Jeden Abend werden wir unterhalten mit Meinungen zur Krise“, so beginnt sein Artikel, und man braucht nicht lange auf seine Hauptthese zu warten: „Meine Zustimmung hat nur der, der die europäische Union auch als Währungseinheit will. Es gibt den Euro. Er ist mehr als eine Währung. Er ist ein Medium der Kommunikation beziehungsweise eine Sprache, die in Europa jeder versteht. Dass sich heute ein europäisches Land vom Euro trennen muss, zurückstürzen soll ins Devisenzeitalter, ein Spielball jeder Spekulation, ist ein Horrorszenario.“ (Zu ergänzen wäre: zurückfallen in das Engstirnigste, Bornierteste, was sich vorstellen lässt: den Nationalismus.)Sprach's und holt Abschnitt um Abschnitt weiter aus – bis in die griechischen Gründungsmythen europäischen Denkens und Dichtens, Hölderlin und Nietzsche herbeirufend als die „griechischsten“ und daher sprachfähigsten unter den Deutschen.

Dann folgt die zweite Hauptthese: „Wohin auch immer man sich wendet, die deutsche Literatur ist da am lebendigsten, wo sie europäisch ist. Deutsch ist sie immer erst nachher, nachdem sie fremdgegangen ist. Die deutsche Sprache hat Gehen und Schreiten und Tanzen und Tänzeln gelernt in Griechenland, in der Provence, in England und sonst wo.“ Das nenne ich Bekennermut; Hut ab, man kann ihn nur zu dieser Intervention beglückwünschen, den unruhigen Weisen von Nußdorf am Bodensee, ohnehin einer nicht nur im geografischen Sinne europäischen Mitte.

Zehn Jahre ist es her, seitdem Walser festgestellt hat, sein „Geschichtsgefühl“ sei immer auch „Geschichtsmitgefühl“. Das betraf damals diejenigen, die noch an den
unmittelbaren Folgen der deutschen Vereinigung zu tragen hatten. Walser lässt heute – unbedingt folgerichtig – alle Eurostaaten an diesem „Geschichtsmitgefühl“ teilhaftig werden. Recht hat Walser mit dem Verweis auf Nietzsche in diesem Zusammenhang. Denn man verdeutliche sich einmal, dass dieser Umwerter aller Werte im Herbst 1887 notiert hat: „Die wirthschaftliche Einigung Europas kommt mit Nothwendigkeit.“ Verbunden sah er dies mit der Gründung einer europäischen „Friedenspartei“.

Die Zahl 13 ist vorbelastet

Nun mag man einwenden, dass diese Einleitung zu einer Besprechung von Marin Walsers jüngstem Roman eher eine Wegführung oder Ablenkung sei und damit ein Beispiel dafür, das „Besprechen“ etwas zu weit zu treiben. (Ohnehin ein seltsames Wort – „besprechen“, als müsse man auf einen vorliegenden Text wie auf eine Wachsplatte sprechen, das Gedruckte gleichsam über-sprechen.) Nein, wir befinden uns nämlich bereits inmitten unvermuteter Zusammenhänge. In besagtem Artikel über das „richtige Europa“ zitiert Walser aus einem Hölderlin-Gedicht (es handelt sich um dieKurzode „Menschenbeifall“) in asklepiadeischem, also griechischem Versmaß: „Ist nicht heilig mein Herz, schöneren Lebens voll / Seit ich liebe? Warum achtet ihr mich mehr, / Da ich stolzer und wilder, / Wortereicher und leerer war?“ Es fände sich kein treffenderes Motto für Walsers neuen Roman: „Das dreizehnte Kapitel“.

13 hat es schwer als Zahl; sie ist abergläubisch vorbelastet, gilt sie doch als eine Unglückszahl. Man könnte Mitleid mit ihr empfinden und bezweifeln, dass sie ihren Ruf verdient habe. Dabei wirkt sie magisch anziehend, die 13, auch als Ziffer: die scharfkantige Eins neben der nur Rundungen kennenden Drei. Und jetzt nennt Walser seinen jüngsten Roman auch noch so. Fordert hier ein Erzähler das Schicksal heraus? Es handelt sich wieder einmal um einen Liebesroman, ein Briefroman zudem – welch mutige Form in unserer briefvergessenen Zeit. Freilich: Maja Schneilin, Theologin und Gattin des bedeutenden Molekularbiologen, Korbinian Schneilin, schreibt ihrem „lieben Herrn Schriftsteller“ namens Basil Schlupp – er heißt wirklich so – oft auf ihrem iPhone. Kennengelernt hat man sich im Berliner Schloss Bellevue, dem Amtssitz des deutschen Bundespräsidenten, der zu Ehren des Wissenschaftlers ein Essen gegeben hat. Über den Tisch hinweg sozusagen vernarrte sich Schlupp in die Theologin, deren Tischherr ausgerechnet ein Hirnforscher war.

Zwei Wochen nach dem festlichen Abendfasst sich Schlupp ein Herz und schreibt seiner Angebeteten, genauer: Er zelebriert das, was er in anderem Zusammenhang „Gefühlsausführlichkeiten“ genannt hat. Das „Briefabenteuer“ beginnt. Ganz im Sinne von Walsers „theologischer Wende“, die spätestens seit seiner Novelle „Mein Jenseits“ offenkundig geworden ist, stattet er Maja Schneilin mit den intellektuell fundiertesten Argumenten aus. Sie, eine praktisch veranlagte Theologin, versteht sich auf die Auslegung von Karl Barths Deutung des Römerbriefs ebenso wie auf die Kontrolle ihrer Emotionen. Eine Expedition in die kanadische Urnatur, die sie zuletzt mit ihrem Korbinian noch unternimmt, bringt sie an den Rand ihrer Existenz. Für Basil wird sie zur „Verschwundenen“, zur „Verstummten“, sprich: zur immer unerreichbareren Freundin. Was diese Briefliebschaft am Leben erhält, ist die Frage, die beide gleichermaßen umtreibt: Ist eine authentische Beziehung (heute, im Zeitalter der medialen Zerstreuungen) überhaupt möglich?

Dann wäre da noch Iris, Basil Schlupps „eigentliche“ Lebensgefährtin, Stichwortlieferantin, eigenwillig, aber verlässlich. Sie kann schreiben – und wie, so gut nämlich, dass Schlupp ihre Aufzeichnungen unmittelbar verwerten kann. Sie, Iris, ist es auch, die an etwas arbeitet, was schließlich „Das dreizehnte Kapitel“ heißen soll. Schlupp „veruntreut“ einige dieser Textabschnitte seiner Iris, indem er sie seiner „zu sehr Abwesenden“, Maja Schneilin, seiner Briefgeliebten, zuleitet. Er lässt sozusagen einen Text fremdgehen. In ihm finden sich aphoristische Formulierungen wie diese: „Jeder Satz, der mit Ich beginnt, leidet an Enge und Atemnot.“ Oder: „Die Komödie entsteht aus Notwehr.“ Oder: „Ich höre dem Schmerz in meinen Fingern zu.“ Die brieflich erschriebene Intimität steigert sich im Verlauf des ersten Teils bis zu dem Punkt, an dem Basil Schlupp seiner Maja gestehen kann, er habe ihre Sätze schon immer „wie Berührungen erlebt“. Basil wird angesichts seiner Liebe im Zeitalter der elektronischen Kommunizierbarkeit sogar „technikfroh“ und schreibt: „Wo Sie sind, wo ich bin, wir haben einen link. Ich muss mich zwar der abstrakten Tastatur ausliefern, dafür aber ist die Illusion der Erreichbarkeit sondergleichen entstanden.“

Die Kommunikation stürzt ab

Im zweiten Teil des Romans nehmen die „Aussichtslosigkeit“ und „Unmöglichkeit“ überhand. Die Kommunikation zwischen Maja und Basil „stürzt ab“, obgleich dies Basil nicht wahrhaben will, unterzeichnet er doch sogar als „Dein vor Gemeinsamkeit Vibrierender“. Dann kommt alles im Sinne einer finalen Krisis zusammen, die reinigend wirken soll, sich aber am Rande der Plausibilität abspielt. Korbinian Schneilin wird an einem bösartigen „Tumor in der Bauchhöhle“ zugrunde gehen. Die Ärzte geben ihmnoch drei Monate. Die Schneilins setzen alles auf eine Karte und gehen in die kanadische Wildnis ins Yukon Territory, wo um 1900 der Goldrausch zu scheindionysischen Ekstasen geführt hat. Dort, in Eagle Plains, wird der große Molekularbiologe sterben, Maja, bei ihm bis zuletzt, derweil Iris am offenen Kamin in Berlin ihr „13. Kapitel“ verbrennt. Ihrem Basil „schenkt“ sie den Titel.

Sein, Basils und Walsers 13. Kapitel laboriert, um nicht zu sagen: krankt an diesem zweiten Teil. Es wirkt „wortereich und leer“, um einmal Hölderlin gegen Walser zu zitieren; dann aber scheint diese Leere am Ende doch folgerichtig. Und der Walser-Leser erinnert sich gerade noch zur rechten Zeit, bevor er an diesem zweiten Teil des neuen Romans irre wird, eines Walser-Essays mit dem bündigen Titel: „Die Verwaltung des Nichts“, in dem sich übrigens ein Satz findet, der auf die Aufzeichnungen von Iris aus dem 13. Kapitel vorausweist: „Jeder Satz, der mit Ich beginnt, beschäftigt sich mit meinem Käfig. Vielleicht sollte ich sagen: Ich ist überhaupt mein Käfig.“

Dann scheint dieser Roman wohl gemeint: Das „liebende Herz“ – immer droht ihm Beziehungsnot, Selbsttäuschung, Nichtigkeit und Leere um den Käfig des Ichs – schlägt vor allem im künstlerischen Werk, das freilich, aufs Ganze gesehen, in Martin Walsers Hand alles Dreizehnte nicht zu fürchten braucht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2012)

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