Jede Menge Begleitmusik

An der Musik gescheitert: Sarah Quigleys Schostakowitsch-Roman „Der Dirigent“. Dabei fängt alles so gut an. „Ich wurde ohne Herz geboren.“

Auf einen Roman von 383 Seiten folgen: 1. Danksagungen mit Literaturnachweisen. 2. Ein Anhang mit Lexikonwissen, einladend flach angesetzt („Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch zählt neben Igor Strawinsky und Sergej Prokofjew zu den bedeutendsten Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts“). 3. Ein Interview mit der Autorin Sarah Quigley über ihre Motive („Ich habe mich schon immer für Schostakowitschs Musik interessiert, die so kompliziert und wunderschön zugleich sein kann“). 4. Eine CD mit Schostakowitschs 7. Symphonie.

Muss man nicht dankbar sein für so viel Bonusmaterial? Oder sollte man Verdacht schöpfen, dass das reiche Beiwerk einen Malus indiziert? Was fehlt einem Roman, wenn zwischen die Buchdeckel noch sachdienliche Hinweise, Kommentare und Tondokumente gepresst werden?Der Verdacht – um es vorwegzunehmen – bestätigt sich. Dmitri Schostakowitschs Eintritt in die Romanwelt lässt ein fahles Gefühl des Ungenügenden zurück.

Dabei fängt alles so gut an. „Ich wurde ohne Herz geboren.“ Das ist der erste Satz – der hat die Wucht, sollte man meinen, ein Epos wirkungsvoll in Gang zu setzen. Auch sonst trifft man in diesem Roman immer wieder auf sprachliche Kraftfelder: starke Metaphern, treffsichere Vergleiche. „Wie geschickt sie seinen Charakter bloßlegte! So säuberlich, als nähme sie einen Fisch aus. Keine Zimperlichkeit oder Gnade.“ Keine Frage, Sarah Quigley kann schreiben. Aber kann sie auch über Musik schreiben? Oder, genauer: Gelingt es ihr, sich erzählend in die Musik zu schreiben?

Die Schwierigkeit ist enorm. Quigley scheint es gewusst zu haben. Wohl deshalb macht sie Schostakowitsch nicht zur Hauptfigur, sondern erhebt einen Künstler neben ihm zum Titelhelden. „Der Dirigent“, das ist Karl Eliasberg, Leiter des Leningrader Rundfunkorchesters. Auf demHöhepunkt der Belagerung durch deutsche Truppen erhält Eliasberg 1942 den Auftrag, Schostakowitschs neueste Sinfonie, die „Leningrader“, in der vom Tod gezeichneten Stadt aufzuführen. Nur 15 Musiker schleppen sich zur ersten Probe. Trotzdem kommt das Konzert zustande. Ein zusammengewürfeltes Ensemble, angespornt von einem besessenen Dirigenten, spielt Schostakowitschs Kriegssinfonie mit letzter Kraft. So weit der historische Kern der Geschichte, um den Quigley ihren Roman rankt.

Dass sich diese Begebenheit in der gedrängten Form einer Schostakowitsch-Biografie spannender liest als in Quigleys 380-Seiten-Epos, gibt zu denken. Zu oft verliert sich die Autorin ins Weitgesponnene, zu selten wagt sie den Vorstoß ins Innere der Musik. Das ist die große Möglichkeit der Dichtung – und ihre Gefahr. Denn wo sind sie wirklich, die Sätze in der Weltliteratur, von denen man sagen kann: Sie sind Musik? Bei Eduard Mörike gibt es so einen, in seiner Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“: „Wie von entlegenen Sternenkreisen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, Mark und Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht.“

Schostakowitsch in Leningrad, geschildert von Sarah Quigley, bleibt merklich dahinter zurück. „Er fühlte sich hin und her gerissen: hier die Partitur für seinen Marsch, dort seine kurvenreiche Frau.“ ■



Sarah Quigley
Der Dirigent

Roman. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. 398S., geb., €23,70 (Aufbau Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2012)

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