Lily meets Lola

Jüdisch, verschroben, ernst, aufregend und sehr lustig: Das alles ist Lily Bretts Roman „Lola Bensky“. Eine wilde Rock-'n'-Roll- Geschichte aus den Sechzigerjahren, die bis heute andauert.

Lily Brett! Endlich wieder ein Buch von ihr! Immer habe ich ihre autobiografisch inspirierten Geschichten über neurotische Australierinnen verschlungen, die in New York City beruflich und sozial erfolgreich Fuß gefasst haben – meist ihren alten, rüstigen und wissbegierigen Vater im Schlepptau, einen polnisch-jüdischen KZ-Überlebenden. Bretts Frauenfiguren haben oft mit dem Trauma und Schicksal der Kinder von KZ-Überlebenden und mit den daraus resultierenden Neurosen zu kämpfen. Diese offenbaren sich unterschiedlich: durch Übergenauigkeit, Gewichtsprobleme, Panikattacken. Die Schuldgefühle, überlebt zu haben, während Familie und Freunde unter der Nazi-Herrschaft umkamen, sind bei vielen Überlebenden stark ausgeprägt: etwa bei den Elternfiguren Bretts, ebenso bei den Töchterfiguren.

Nun also „Lola Bensky“. Die Ähnlichkeit zur Autorin mittels „L“ und „B“ signalisiert. Ob sich diese wahnwitzige, wahnsinnige und witzige Geschichte tatsächlich so ereignet hat, bleibt offen, und das ist auch gut so. Außerdem: Was für ein Namedropping! Wir schreiben die wilden Mittsechzigerjahre. Lola Bensky, eine 19-jährige australische Journalistin, arbeitet für das Rockmusikmagazin „Rock-Out“. Geboren wurde sie in einem Camp für Displaced Persons in Deutschland direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wo ihre Eltern, Renia und Edek Berkelmann, einander nach ihrer Befreiung aus Auschwitz wiedergefunden und geheiratet haben. Infolge ihrer Auswanderung nach Australien nannte sich die Familie schließlich Bensky.

Lola wird als sehr hübsches, aber auch dickes Mädchen beschrieben. Ihre Gedanken kreisen ständig um ihr (Zu-)Dicksein, weil ihr das ihre Mutter permanent vorhält, und um neue Diätvarianten. Etwa gibt es da die Apfel-Bananen-Ei-Diät, die sie dann – wie alle anderen davor – doch nicht durchhält. Dafür hat sie mit dem Who's who der Rockszene der Sechzigerjahre zu tun, als da wären: Jimi Hendrix, mit dem sie sich über Lockenwickler unterhält, Mick Jagger, mit dem sie über finanzielle Gerechtigkeit bei Männern und Frauen debattiert sowie darüber, dass man, „wenn man viele Kartoffeln isst“, am Ende selbst wie eine solche aussieht; Cher, der sie ihre falschen Wimpern mit Diamantimitaten leiht (die sie nicht mehr zurückbekommt) und mit der Lola bis zuletzt Ähnlichkeit nachgesagt wird. Linda Eastman, die spätere Linda McCartney, ist quasi eine Berufskollegin, die als Fotografin immer backstage anzutreffen ist und sich etwa mit Jim Morrison vergnügt, den Lola wiederum gar nicht ausstehen kann. So geht es dahin. Lola reist von London nach New York und weiter nach Los Angeles. Dazwischen erlebt sie im Jahr 1967 – es wirkt fast zufällig und dennoch unweigerlich – das Monterey International Pop Festival, das kalifornische Vorbild von Woodstock, mit Janis Joplin angeregt über Drogen, Sex und das Dicksein plaudernd.

Ein zweiter Strang spielt zu Lolas 30. Geburtstag. Lola ist inzwischen mit einem ehemaligen Musiker, „Mr. Ex-Rockstar“, verheiratet und Mutter einer Tochter, „Mrs. Gorgeous“. Sie sitzt in Melbourne fest. Dieses kurze Kapitel über die kurze Ehe behandelt nur die Hochzeitsfeierlichkeiten, die ziemlich desaströs verlaufen: Jüdische Gemeinde trifft auf evangelische Australier, die von Lola sogenannte „Church-of-England-Brigade“, die untereinander schon steif genug sind und „in Gegenwart der Juden erstarrten“.

Im dritten Plot wird Lola in ihrem 52.Lebensjahr dargestellt. Sie ist mit Ehemann Nummer zwei verheiratet, „Mr. Someone Else“, einem Maler, und bastelt an ihrer Karriere als Schriftstellerin in New York. Sie schreibt über ein Privatdetektivbüro namens „Ultraprivat“ mit den zwei Detektiven Harry und Schlomo und der Detektivin und Inhaberin des Büros, Petrushka Inge Maria Pagenstecker, der Einfachheit halber Pimp genannt.

Im vierten Teil lässt Brett Lola Bensky mit 63 Jahren im Heute an einem Wohltätigkeitsdinner bei steinreichen Amerikanern, Besitzern einiger Gemälde von „Mr. Someone Else“, teilnehmen. Dabei trifft sie den ebenso in die Jahre gekommenen Mick Jagger wieder, dem sie erneut vorgestellt wird. Er scheint sie zuletzt doch zu erkennen, denn am Ende blicken sie einander über die lange Tafel an: „Er lächelte und nickte.“

Es ist eine aufregende, spannende, lustige Reise, auf die uns Lily Brett hier mitnimmt: Jüngere Leser bekommen Insiderinformationen über das Rock-'n'-Roll-Leben der Sechzigerjahre, ältere mögen in ihre Jugend zurückeintauchen und sich der einen oder anderen wilden Episode aus dieser Zeit entsinnen. Schade, dass ich selbst die bis heute als Große hochgehaltene Musiker und Künstler (ja, auch Andy Warhol erhält einen Kurzauftritt) nicht erlebt habe; heute wird zu schnell jemand als „groß“ gehandelt und ist bald schon wieder in der Versenkung verschwunden. Lily Brett schafft es – wieder einmal –, in diesem ihr eigenen Stil auf locker-luftige Art alltägliche wie seltsame Ereignisse zu beschreiben. Das Lachen darf ruhig laut und von Herzen sein.

Ernste oder ernsthafte Passagen gibt es aber ebenso durch die für Lola wiederholt erwähnten Rückverweise auf ihre familiäre, soziale, gesellschaftliche Herkunft. Hie und da ertappe ich mich allerdings dabei zu denken, bereits genügend jener Hinweise darauf erhalten zu haben, dass Lola (wie Brett) in einem solchen, zuvor erwähnten Lager für Displaced Persons nach dem Krieg geboren wurde, doch ist das das Fundament der brettschen Geschichten. Weiters wird auch die Drogenproblematik nicht ignoriert – die Kehrseite der (Rockstar-)Medaille glitzert eben nicht mehr so wie das Starleben.

Just als Lola an jenem Dinner teilnimmt, erinnert sie (sich) an jene verstorbenen Künstler unter 27 Jahren der Sechziger- und Siebzigerjahre, die dadurch in den „Klub 27“ aufgenommen wurden, zu dem Hendrix, Joplin, Morrison sowie Brian Jones zählen. Außerdem starben sehr jung Mama Cass (The Mamas and the Papas), Otis Redding sowie eine befreundete Rockjournalistin von Lily Brett, Lillian Roxon, mit der sie zusammenarbeitete.

Lesenswert und leicht zu lesen, wobei leicht nicht mit seicht verwechselt werden darf, kommt „Lola Bensky“ also daher – und ich kann mein Schwärmen für Lily Bretts Schreiben getrost weiterführen. ■


Lily Brett in Wien: mit Lesungen im Theater in der Josefstadt am 24. und 25. November, Uraufführung der szenischen Fassung ihres Romans „Chuzpe“ in den Kammerspielen am 22. November.



Lily Brett
Lola Bensky

Roman. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Heinrich. 302S., geb., €20,60 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2012)

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