Buchgeschenk als Hundedreck

Tief gespalten: Michael Nedos „Biografisches Album“ stellt den Psychoextremisten Ludwig Wittgenstein vor.

Auf die Frage nach den beiden einflussreichsten Philosophen des vorigen Jahrhunderts würde ich ohne Zögern antworten: Wittgenstein I und Wittgenstein II. Gemeint ist sowohl der Autor des „Tractatus logico-philosophicus“ als auch jener der, posthum publizierten, „Philosophischen Untersuchungen“. Gemeint ist der eine und einzige Ludwig Wittgenstein. Obwohl die beiden Werke in zentralen Punkten einander widersprechen, prägten beide gleichermaßen die nachfolgende Denktradition. Das ist mehr als erstaunlich.

Denn im „Tractatus“ behauptet Wittgenstein, er habe die Probleme der Philosophie endgültig gelöst. So etwas konnte nur ein Verrückter oder ein Genie allen Ernstes behaupten. Die Pointe: Ausschließlich die Sätze der Naturwissenschaft seien sinnvoll; die Sätze der Philosophie hingegen seien unsinnig. Denn sie versuchten, über das Mystische zu sprechen. Dieses gebe es zwar, doch nur als Unsagbares. Deshalb endet der „Tractatus“ mit der Feststellung, er selber bestehe aus lauter unsinnigen Sätzen, die man überwinden müsse, um die Welt richtig zu sehen.

In den „Philosophischen Untersuchungen“ entfaltet Wittgenstein dann seine Auffassung, wonach die Bedeutung eines Begriffs nicht aus dem jeweiligen Gegenstandbezug resultiere – etwa wie der Hundename „Fido“ sich auf den Hund Fido bezieht. Vielmehr werde die Bedeutung eines Begriffs erst durch dessen Gebrauch innerhalb einer Sprachgemeinschaft fixiert. Die neue Pointe: Sämtliche überkommenen Bedeutungstheorien seien falsch, einschließlich jener im „Tractatus“. Hier regiert, bei denkerischerSkrupelhaftigkeit im Detail, abermals der unbedingte Wille des Genies, alles anders und so die Welt erst „richtig zu sehen“.

Um die Nachhaltigkeit Wittgensteins zu würdigen, muss man realisieren, inwiefern sein Werk radikal, tief und neu ist. Doch es kommt etwas Wesentliches hinzu: die Persönlichkeit des Denkers, die zwischen Tugendneurose und Überwertigkeitsgefühl schwankt. Nach der Publikation „Ludwig Wittgenstein – Sein Leben in Texten und Bildern“ (1983) kann der Interessierte nun bei Michael Nedo dazu Ausführliches erfahren. Im Anschluss an eine Einleitung, die ein wenig konstruiert wirkt, präsentiert das „biografische Album“ eine Fülle an Bildern und zugeordneten Texten, die den Philosophen aus verschiedenen Blickwinkeln im Rahmen unterschiedlicher Lebenskontexte zeigen.

Wittgenstein war ein Psychoextremist. Er, Spross einer der reichsten Wiener Familien, eiferte in seiner Entsagungswut Tolstoi nach. Seinem Mythos hat das nicht geschadet. Wer in Wittgensteins Bannkreis geriet, zweifelte kaum jemals daran, einem Genie begegnet zu sein. Selbst ein Gegner Wittgensteins wie der Cambridger Philosoph C. D. Broad empfahl den Autor des „Tractatus“ für eine Professur mit der Bemerkung, wenn man ihn übergehe, wäre dies, als ob man Einstein einen Lehrstuhl für Physik verweigerte.

Wittgensteins Wesen war tief gespalten. Phasen der Selbstzerknirschung, des Selbstekels und der Selbsterniedrigung wechselten mit apodiktischen Urteilen, die praktisch jede Konvention sprengten. Ein devot dargebrachtes Buchgeschenk wird als „Hundedreck“ qualifiziert, die Menschen der österreichischen Einöde als „Vieh“ apostrophiert, Gustav Mahler wird verachtet, weil er trotz mangelnder Originalität komponiere. Sogar Betrand Russell, Wittgensteins Gönner und Freund, wird mit Herablassung behandelt: Über den Koautor der epochalen „Principia Mathematica“ äußert Wittgenstein, jener verstehe den „Tractatus“ halt nicht wirklich.

Nedo präsentiert das Material so, dass es durchgehend fesselt. Es macht den Leser teils ehrfürchtig staunen, teils froh darüber, dem Genie keine persönliche Visite abstatten zu müssen. Beschlossen wird das „Album“ mit einer Chronik des Lebens von Wittgenstein, der, 1889 in Wien geboren, 1951 in Oxford starb, nicht ohne seinen Freunden ausrichten zu lassen: „Tell them I've had a wonderful life.“ ■




Michael Nedo (Hrsg.)
Ludwig Wittgenstein

Ein biografisches Album. 464S., geb., €41,10
(C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.