Was die Nachbarn sagen

Es hätte ein ganz durchschnitt-liches Leben werden können. Doch mittendrin bricht Maria Pink, langjährige Ombudsfrau der „Kleinen Zeitung“, aus. In ihrer Autobiografie berichtet die 83-Jährige offen über ihre Krisen, über ihre Ehe und über eine geheime Ménage-à-trois.

Für eine Biografie, die spannend sein soll, ist ein Leben Voraussetzung, das nicht in allem durchschnittlich ist, das Brüche im Lebenslauf aufweist. Die Doyenne des Kärntner Journalismus, die 83-jährige Maria Pink, Redakteurin und Ombudsfrau der Kärntner „Kleinen Zeitung“, hat einen solchen Lebensabriss, eine Lebensgeschichte, die sich „Mittendrin im Nirgendwo“ abgespielt hat. Mit ihrer Autobiografie legt Maria Pink eine Spur, die sie über das Vergängliche hinaushebt. Aus diesem Buch sollen die Nachkommen(den) – und zudem die Zeitgenossen – erfahren, mit welchem Glück, welchen Schmerzen, welcher Zufriedenheit, mit welcher Zuwaage an Enttäuschung, aber auch mit wie viel Hoffnung und Zuversicht sich die Autorin durch ihre Zeit bewegt hat und hat bewegen lassen (müssen), schon nach wenigen Seiten wird deutlich: aber nie hat gehen lassen. Es war der Kampf zwischen dem herrschenden Patriarchat und ihrer Emanzipation. Der Leser und die Leserin werden bald konstatieren, was oder wer die Oberhand gewonnen hat.

Beim Konstruieren oder vielmehr Nachbauen ihres Lebenslaufs, Entwicklungsgangs und Lebensinhalts, beim ehrlichen Versuch der Selbsterforschung beginnt Pink dann zu philosophieren und endet immer wieder bei der Folgerung, dass das Leben schön sei. Dabei war ihr Weg anstrengend und fordernd. Trotzdem klagt die Autorin nicht, sondern zieht eine ihr selbst gegenüber schonungslose Bilanz über ihr Leben. Über dessen Anfang es heißt: „Einer der Schwerpunkte in meiner Erziehung war Gottesfürchtigkeit.“ Und über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt sie: „Ich lebte in einem geistigen Niemandsland. Keine Schule, keine Bücher...“

Beim Zusammenfügen ihrer Biografie hat sie sich viele Fragen gestellt. Sie konstatiert nicht nur, wie sie sich selbst gesehen hat, sie fragt sich auch, wie sie andere etwa im Leben mit ihrem Ehemann gesehen haben. „,Was werden die Nachbarn sagen?‘ war die Basis für die Regeln des Lebens auf dem Land.“ Ganz offen beklagt sie das Unvermögen ihres Partners, Liebe und Zärtlichkeit zu zeigen und zu geben oder anzunehmen. Erst „im Schlafzimmer öffnete sich mir seine zweite Seele. Ich lernte ihn als einfühlsamen Sexualpartner kennen.“ Für den Mann „war unser Ehebett ein eigener Kosmos“.

Schonungslos offen ist Pink auch an jener Stelle, an der sie beschreibt, wie sie als 50-Jährige zum ersten Mal lesbisch verführt wird. „Was ein Orgasmus ist, war mir nicht unbekannt. Aber in dieser Version?“ Biografien behandeln meist das Leben von Menschen des sogenannten öffentlichen Lebens. Über Päpste, Politiker, Schriftstellerinnen, Sportler und Nobelpreisträgerinnen werden Bücher geschrieben. Aber auch ein Lebenslauf, der sich meist im Privaten abspielt, hat unter dem Strich vieles Unbekannte zu verbuchen. Etwa die vollkommen privaten Heiraten, Geburten, Todesfälle, wobei klassische Biografien manchmal die unangenehme Gewohnheit haben, den Beschriebenen über andere zu erheben. Darum geht es in diesem Buch nicht.

Maria Pink erzählt ihr Leben bis in die mäandernden Ausläufer, wodurch es lesbar und spannend ist wie ein Roman. Es ist eine Tour d'Horizon durch die Kärntner Kultur- und Zeitgeschichte. Menschen, die Pink lobt, nennt sie beim Namen, Anton Leiler, Arno Patscheider oder Horst Pirker und viele andere, solche, deren Taten weniger anheimelnd sind, zeichnet sie so signifikant, dass der geschulte Kärntner sofort erkennt, welche Intriganten und Tunichtgute sie meint, was in manchen Kärntner Stuben wohl einigen Staub aufgewirbelt hat. Obwohl sie nichts verschweigt, hat sie dort innegehalten, wo es für bestimmte Figuren unangenehm werden könnte. (Als Rezensent juckt es einem in den Fingern, ein paar ungenannte Namen zu entschlüsseln.)

Immer wieder kann man aber auch laut lachen, denn das Buch ist beileibe nicht humorlos. Zur Orientierung hat Pink zeitgeschichtliche Wegmarken gesetzt, beispielsweise das Attentat auf John F. Kennedy. Natürlich kommt ihre Familie nicht zu kurz und kann die Mutter, Großmutter und Urgroßmutter ihren Stolz über die drei Kinder, drei Enkel und den Urenkel angemessen verbalisieren.

Eine Biografie sollte das Leben eines Menschen mit seiner Wirkung beschreiben, wozu zwei Formen zur Verfügung stehen, eine literarische und eine faktische. Maria Pink erzählt ihr Leben mit Fakten und ohne– soweit möglich – Fiktion. Abschweifungen, Fantasie und Übertreibungen sind nicht Sache dieses Werks, wohl aber Spannung und Herz, sodass der Charakter der Beschriebenen in jedem Kapitel gegenwärtig ist, wenn nicht woanders, dann zwischen den Zeilen. Dennoch beweist die Autobiografie, und zwar trotz ihrer Genauigkeit, eine gewisse Analogie mit dem Surrealismus in der Kunst, zumal das Charakterbild der Biografierten nicht gezeichnet, sondern umschrieben wird.

Das Buch ist, nach mehreren früheren Veröffentlichungen, ein reifes Alterswerk. Es ist spannend notiert, schnell erzählt, man liest mit Neugierde. Maria Pink hält im „Mittendrin“ akribisch fest, dass die Rezension zu ihrem Roman „Judith“ ihr neue Dimensionen eröffnet und sie motiviert hat: „Damit habe ich die Schallmauer, die Kärnten vom Rest der Welt trennt, durchbrochen.“ Für mich ist Maria Pinks Autobiografie das ohne Kunstanspruch gestaltete Gegenstück einer deutschsprachigen Kärntnerin zu Maja Haderlaps „Engel des Vergessens“, eine Kärnten-Saga des vergangenen Jahrhunderts. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2013)

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